Schaffen wir das?

Eine Helferin sortiert Kleiderspenden für Flüchtlinge.
Eine Helferin sortiert Kleiderspenden für Flüchtlinge. Foto: dpa

Die Herausforderung ist gewaltig, und sie wird nicht kleiner: Jede Nacht kommen zwischen 500 und 800 Flüchtlinge in Rheinland-Pfalz an und wollen versorgt werden. Das ist, um es mit einem abgenutzten Wort von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu sagen, alternativlos. Denn die Asylbewerber werden nach dem sogenannten Königssteiner Schlüssel verteilt – und der sieht vor, dass 4,8 Prozent der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, nach Rheinland-Pfalz gebracht werden.

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„Die Belastungsgrenze 
ist weit überschritten“, sagt GdP-Chef Ernst Scharbach.
„Die Belastungsgrenze 
ist weit überschritten“, sagt GdP-Chef Ernst Scharbach.
Foto: privat

Sie brauchen schnell eine Unterkunft für den nahen Winter, und das schafft man nicht mit kleinen Einheiten. „Wenn Länder keine Erstaufnahme aufbauen, dann würden die Flüchtlinge sofort an die Kommunen durchgereicht“, sagt einer der beteiligten Experten, die fieberhaft auf der permanenten Suche nach immer neuen Objekten sind.

„Deutlich über 500 Plätze, das ist die Größenordnung, die wir brauchen“, heißt es. Doch die Zeit der reinen Willkommenskultur vor Ort ist vorbei. Zunehmend werden die Organisatoren des Landes angesichts der Dimensionen ihrer Pläne vor Ort mit Angst, Ablehnung oder offener Aggression konfrontiert. In Langenlonsheim etwa mussten die Landesvertreter von den geplanten 3000 Plätzen auf nur noch 1000 Plätze zurückrudern. Wenn das jetzt immer so läuft, „dann sind wir schnell platt“, sagt einer.

In Daaden drängten sich jüngst mehr als 1000 Menschen aus dem Umland des Stegskopfs bei einer Informationsveranstaltung, um zu hören, dass auf dem ehemaligen Militärgelände im Westerwald auch 5000 Flüchtlingsplätze nicht ausgeschlossen sind. Detlef Placzek, Leiter des Führungsstabs Flüchtlingshilfe bei der Landesregierung, machte unmissverständlich klar: Diese Menschen müssen untergebracht werden. Placzek überlegt derzeit gar, ob er Aufnahmeeinrichtungen in überdachten Stadien oder auch in Bahnhöfen schafft.

Tatsächlich müssen die Rheinland-Pfälzer jetzt damit leben, dass die Flut der Flüchtlinge nicht irgendwo landet, sondern auch direkt um die Ecke. Wie viele Wochen und Monate man den Zustrom noch aushalten kann, weiß niemand seriös. Noch überwiegt der Optimismus, dass man die Aufgabe meistern kann. Noch melden sich Besitzer leerer Industriehallen, Wohnheime oder freier Flächen, auf denen man Container errichten könnte. Aber händeringend hoffen die Helfer auch auf eine europäische Lösung bei der Verteilung der Flüchtlinge, die den Druck vom Kessel nehmen würde. „Wenn die gesellschaftliche Haltung kippt, wird es schwer“, heißt es hinter vorgehaltener Hand.

„Schaffen wir das?“, fragen wir einen der Beteiligten. Er antwortet: „Was wäre denn die Alternative?“, sagt er. „Dass wir Soldaten an die Grenzen entsenden?“ Und er ergänzt: „Wenn wir es nicht schaffen, wer soll es denn noch schaffen?“ Dann gibt es noch eine Portion Optimismus: „Die Probleme lassen fast immer nach, wenn die Einrichtungen eröffnet sind.“

Dieser Optimismus fällt der rheinland-pfälzischen Polizei zunehmend schwerer. Die Flüchtlingszustrom bedeutet Dauerstress und Sonderschichten. Die moderate Gewerkschaft der Polizei (GdP) sieht die Ordnungskräfte allmählich in die Knie gehen. „Die Belastungsgrenze ist weit überschritten“, sagte der GdP-Landesvorsitzende Ernst Scharbach unserer Zeitung. Die Landesregierung betont, dass sie sich bemüht, die Polizei zu unterstützen. Das wird von der GdP auch gar nicht nicht bestritten. Für Scharbach rächen sich aber jetzt die Sparbemühungen der Vergangenheit. „Bundesweit wurden 20 000 Stellen gestrichen“, bilanziert er. Die Konsequenz: Die Polizei scheint für eine Großlage wie den Zustrom an Flüchtlingen nicht mehr gerüstet zu sein.

Polizeieinsatz.
Polizeieinsatz.
Foto: dpa

Besonders dramatisch ist die Lage wohl bei der Bereitschaftspolizei. Scharbachs Analyse: Eigentlich, also auf dem Papier, sollte Rheinland-Pfalz über fünf Hundertschaften (mit 550 Beamten) verfügen. Faktisch waren es nur drei. Und davon sind zwei Hundertschaften mit Flüchtlingen beschäftigt, indem sie die nahe gelegenen Dienststellen verstärken. Für Großereignisse wie konfliktträchtige Fußballspiele oder Demonstrationen sind kaum mehr Sicherheitskräfte übrig, sagt die GdP. „Viele Beamte haben kein freies Wochenende mehr“, beklagt Scharbach. Und das, obwohl beispielsweise landesweite Verkehrskontrollen wie der Blitzmarathon bereits abgesagt wurden.

Problematisch findet die GdP auch, dass die Bereitschaftspolizisten nicht mehr auf den normalen Dienststellen in der Fläche bei der Alltagsarbeit helfen können. Sie müssen sich mehr und mehr um Konflikte unter Flüchtlingen in den Unterkünften kümmern. Jüngster Fall: 100 Asylbewerber waren in eine Schlägerei in Ingelheim verwickelt. Als die Polizei endlich eintraf, ließen sich die Ursachen nicht mehr ermitteln. Kräfte wurden trotzdem gebunden. Initiativen warnen schon lange davor, dass die bedrängte Wohnsituation in Zeltstädten und Flüchtlingsheimen Konflikte schürt.

Polizeibeamte aus dem Westerwald, die nicht genannt werden wollen, haben derweil Angst, dass ihnen am Stegskopf Ähnliches blüht. Dass sie mit der großen Zahl von Flüchtlingen überfordert sein werden. Die kleinen zuständigen Polizeiinspektionen Betzdorf und Westerburg sind auch noch relativ weit entfernt von dem Objekt. Wenn es zu handfesten Konflikten käme, komme man wahrscheinlich zu spät, um die Kollegen zu unterstützen. Oder man sei mit der geringen Zahl von Einsatzkräften einfach machtlos.

mr/db/mm