Nach 100 Tagen: Große Koalition arbeitet meist rund

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Für die Wähler von Union und SPD ist die Sache klar: Wenn es nach ihnen ginge, könnte die große Koalition starten. Foto: Wolfgang Kumm Foto: DPA

Inhaltlich ist die Bilanz der Großen Koalition nach knapp 100 Tagen nicht schlecht. Die Koalitionsverhandlungen waren lang und zäh, dann gingen Union und SPD aber zügig an die Umsetzung des 130 Seiten langen Koalitionsvertrages. Grundsätzlich kann man Union und SPD natürlich vorwerfen, dass Große Koalition auch großes Geldausgeben bedeutet. Formal gesehen aber macht diese Regierung, was sie sich vorgenommen hat.

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Zahlreiche der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Projekte sind konkret auf dem Weg der Gesetzgebung, vieles tritt im Sommer in Kraft. Schwarz-Gelb hat seinerzeit eindeutig weniger auf die Reihe bekommen. Der Fokus lag in den ersten 100 Tagen auf der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, der Energie- sowie der Außenpolitik. Bei den Bundesausgaben soll es von 2015 an keine neuen Schulden mehr geben. Ein Überblick über die wichtigsten Projekte:

1 Arbeit und Soziales: Hier wurden bereits zwei zentrale Projekte auf den Weg gebracht: Rentenpaket und Mindestlohn. Wer mindestens 45 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt hat, soll schon mit 63 Jahren ohne Abschlag in Rente gehen können. Dabei sollen auch Zeiten von Kurzzeitarbeitslosigkeit angerechnet werden. Es gibt Warnungen vor einer Frühverrentungswelle. Rund 9,5 Millionen Frauen, deren Kinder vor 1992 zur Welt kamen, sollen pro Kind im Westen brutto etwa 28 Euro, im Osten etwa 26 Euro mehr Rente pro Monat bekommen. Von vielen wird das Rentenpaket wegen des demografischen Wandels als zu teuer kritisiert, mit Kosten von bis zu 11 Milliarden Euro pro Jahr. Mit dem bundesweiten Mindestlohn von 8,50 Euro sollen vier Millionen Bürger mehr Geld erhalten – die Wirtschaft warnt vor Jobverlusten.

2 Haushalt: Die Null steht. 2015 will der Bund erstmals seit 1969 wieder einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden vorlegen. Die Eckwerte sind bereits beschlossen, im Sommer soll der Entwurf auf den Weg gebracht und im November vom Bundestag beschlossen werden. Der Haushaltsausgleich soll trotz zusätzlicher Mehrausgaben etwa für Infrastruktur, Bildung, Entwicklungshilfe oder die Entlastung der Länder und Kommunen geschafft werden. Die Koalition nutzt dazu die günstige Konjunktur sowie Kürzungen für Sozialkassen.

3 Wirtschaft/Energie: Die Ökostromförderung soll für neue Anlagen auf im Schnitt 12 Cent je Kilowattstunde gesenkt und Rabatte für die Industrie bei den Energiewendekosten abgeschmolzen werden. SPD-Minister Sigmar Gabriel strebt zudem mehr Wettbewerb für Solar-, Wind- und Biomasse-Anlagen an, um wegzukommen von auf 20 Jahre garantierten Vergütungen, die die Strompreise noch lange belasten. Außerdem soll der Ausbau besser gesteuert und bei zu hohem Tempo die Förderung automatisch gekappt werden. Aber der starke Lobby- und Länderdruck könnte dazu führen, dass der Strompreis nur marginal gedämpft wird. Zudem gibt es in Bayern massiven Druck, eine von drei großen neuen Stromtrassen zu beerdigen.

4 Umwelt/Atomkraft: Hier hakt es. Eigentlich sollte längst die Kommission zur bundesweiten Atommüll-Endlagersuche arbeiten – aber Bund und Länder streiten um die richtige Person für den Vorsitz. Auch noch ungeklärt ist die Unterbringung der letzten 26 Castorbehälter mit Atommüll aus der Wiederaufarbeitung im Ausland. Und entgegen der deutschen Forderung wird es auf EU-Ebene für 2030 wohl nur ein Treibhausgas-Minderungsziel von bis zu 40 Prozent geben, nicht aber ein ambitioniertes Ziel für einen Ökostrom-Anteil – andere EU-Staaten wollen den Klimagasausstoß lieber über mehr Atomstrom mindern.

5 Verteidigung: Ministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat eine grundlegende Neuordnung des Rüstungssektors in die Wege geleitet. Ein Staatssekretär und ein Abteilungsleiter mussten dafür ihre Posten räumen. Eine Unternehmensberatung soll nun die Schwachstellen finden und Reformvorschläge machen. Zudem hat von der Leyen die Bundeswehr auf ein stärkeres Engagement in Afrika eingestellt. Der Ausbildungseinsatz in Mali wurde ausgeweitet, die Beteiligung an einer Trainingsmission in Somalia beschlossen. Ein weiterer Einsatz in der Zentralafrikanischen Republik steht bevor. Die Offensive für eine familienfreundliche Bundeswehr muss aber noch mit konkreten Vorhaben untermauert werden.

6 Außenpolitik: Nicht mehr nur zuschauen, stärker einmischen, größere Verantwortung übernehmen – von Anfang an hat die Große Koalition deutlich gemacht, dass sich in der deutschen Außenpolitik einiges ändern soll. Der erste Praxistest sieht nun allerdings anders aus als gedacht: Wichtigstes internationales Thema für Merkel, Steinmeier und Co. sind nicht neue Auslandseinsätze der Bundeswehr, sondern die Krim-Krise und das Verhältnis zu Russland. Die deutsche Sicht der Dinge: Ja zu Sanktionen, aber mit Moskau im Gespräch bleiben.

7 Innenpolitik: Das erste große Vorhaben im Innenressort – die Abkehr von der umstrittenen Optionspflicht bei der Staatsbürgerschaft – gestaltet sich schwierig. Minister Thomas de Maizière (CDU) hat einen ersten Entwurf dazu in die Ressortabstimmung geschickt. Die SPD ist damit allerdings noch nicht zufrieden. Unstimmigkeiten erregt bei den Sozialdemokraten vor allem, dass die Regelung nur für jene jungen Leute mit ausländischen Eltern wegfallen soll, die in Deutschland geboren und auch aufgewachsen sind. Wie das genau ausgestaltet wird, ist noch strittig. De Maizière hat außerdem einen Entwurf vorgelegt, um einige Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer einzustufen. Dies soll den Zuzug von Asylbewerbern aus diesen Ländern begrenzen. Die Abstimmung darüber läuft noch.

8 Gesundheit: Die Koalition macht bei der Umsetzung ihrer Pläne für Gesundheit und Pflege Tempo. Eine Finanzreform für die gesetzliche Krankenversicherung ist auf dem Weg. Künftig sollen die Kassen keine pauschalen Zusatzbeiträge mehr verlangen können – dafür sollen die Versicherten Kostensteigerungen durch vom Einkommen abhängige Aufschläge schultern. Der einheitliche Kassenbeitrag sinkt von 15,5 auf 14,9 Prozent. Vorbereitungen für ein neues Institut laufen, das die Qualität von Kliniken messen soll. In der Pflege soll es ein Gesetz für Verbesserungen ab Anfang 2015 geben. Später soll die Pflegeversicherung grundsätzlich umgestellt werden – die Menschen sollen nicht mehr in drei Pflegestufen, sondern in weiter gefassten Pflegegraden eingruppiert werden. Kritikern geht diese Umstellung aber nicht schnell genug.

9 Justiz/Verbraucher: Das Kabinett hat bereits einen Gesetzentwurf zur sogenannten Sukzessivadoption beschlossen. Homosexuelle Paare sollen so mehr Rechte beim Adoptieren von Kindern bekommen. Die Initiative dafür kam aber nicht von der Koalition. Das Bundesverfassungsgericht schrieb die Änderung vor. Minister Heiko Maas (SPD) hat zudem einen Entwurf für eine Mietpreisbremse vorgelegt. In Ballungsgebieten soll die Miete bei Neuvermietungen nur noch maximal 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Der Makler soll von dem bezahlt werden, der ihn bestellt. Auch für die geplante Frauenquote von mindestens 30 Prozent in Aufsichtsräten großer Unternehmen sollen jetzt die ersten Leitlinien vorgelegt werden.