Kruft

Mutige Jugendliche: Michaeltruppe verteilte Hirtenbriefe in Kruft

Von Rhein-Zeitung, 7. Juli 2014

Eine schwarze Limousine fährt vor. Vier Männer der Geheimen Staatspolizei steigen aus. Sie zerren einen behinderten Mann in den Wagen und fahren davon. Diese Situation hat Franz Reiff vor mehr als 70 Jahren an der Taurengasse in Kruft bei Andernach beobachtet.

Lesezeit: 1 Minute
Anzeige

Von unserem Redakteur Maximilian Eckhardt

„Ich habe meinen Nachbarn nie wieder gesehen“, bedauert der 87-Jährige noch heute. Er spricht von einem Schlüsselerlebnis, das ihm die Augen öffnete. „Plötzlich wusste ich, welche Ziele das System wirklich verfolgte. Im Rassenwahn gingen die Nationalsozialisten brutal gegen behinderte Menschen, Juden und andere vor“, verdeutlicht Reiff. Auch in Kruft seien nach und nach alle jüdischen Familien „verschwunden“.

Als damals 17-Jähriger will Franz Reiff den Verbrechen der Nationalsozialisten nicht mehr tatenlos zusehen. Der Gymnasiast schließt sich einer Widerstandsgruppe in Kruft an. Heute ist er das letzte noch lebende Mitglied der Michaeltruppe.

Die Jugendorganisation hatten Willi Lohner (Niedermendig) und Hans-Clemens Weiler (Kruft) im November 1942 gegründet und nach Erzengel Michael benannt. Zentrum des Widerstands war Kruft, wo die meisten der 50 Mitglieder lebten. Nachts im Schutz der Dunkelheit verteilten sie die Hirtenbriefe von Bischof Clemens August von Galen. „Wir schoben die Schreiben unter den Haustüren durch“, erinnert sich Reiff. Dabei begaben sich die jungen Männer in große Gefahr. Regimegegnern drohten Folter und Konzentrationslager.

In den Hirtenbriefen verurteilte der Bischof von Münster die grausamen Taten der Nationalsozialisten, insbesondere die Tötung behinderter Menschen. „Wir wollten seine Botschaften unters Volk bringen“, betont Reiff. Er verrät, wie die Krufter Hirtenbriefe unbemerkt vervielfältigt wurden: „Meine Cousine Anna Müller hat die Texte an der Schreibmaschine ihres Onkels zu Hunderten getippt.“ Dafür nahm sie Urlaub und reiste ins etwa 80 Kilometer entfernte Bausendorf bei Wittlich.

Im August 1943 war es der Gestapo jedoch gelungen, geheime Briefe von Hans-Clemens Weiler abzufangen. Das war der Anfang vom Ende der Michaeltruppe: Nach einer Razzia in Kruft wurden mehrere Mitglieder verhört. Franz Reiff wurde als Mitläufer eingestuft und blieb auf freiem Fuß. Aber andere Jugendliche landeten für Monate im berüchtigten Erziehungslager auf Burg Stahleck bei Bacharach. Die Anführer der Michaeltruppe kamen ins Konzentrationslager Moringen, wurden aber befreit.

Rhein-Zeitung, 7. Juli 2014