LHC reloaded: Die „Weltmaschine“ gibt Vollgas

Die Aufnahme des Weltraumteleskops Hubble zeigt einen fünf Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen im Sternbild Fische. Über das Bild wurde eine computerberechnete Verteilung Verteilung der Dunklen Materie (in blau) gelegt.
Die Aufnahme des Weltraumteleskops Hubble zeigt einen fünf Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen im Sternbild Fische. Über das Bild wurde eine computerberechnete Verteilung Verteilung der Dunklen Materie (in blau) gelegt. Foto: NASA, ESA, MJ. Jee, H. Ford

Nahezu mit Vollgas startet die Europäische Organisation für Kernforschung (CERN) ihren Teilchenbeschleuniger LHC neu. Nach zweijähriger Umbauphase soll der Large Hadron Collider mit fast verdoppelter Energie unentdeckte Elementarteilchen nachweisen oder sogar den Weg zu einer neuen Physik weisen.

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Von unserem Redakteur Jochen Magnus

„Vielleicht gelingt uns der Aufbruch in das dunkle Universum“, hofft CERN-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer. Seine designierte Nachfolgerin, die italienische Physikerin Fabiola Gianotti, fügt hinzu: „Dieser enorme Energieschub gibt uns viel größere Möglichkeiten, fundamentale Fragen der Menschheit nach dem Wesen des Universums zu beantworten, darunter Fragen nach der Beschaffenheit der Dunklen Materie.“

Suche nach dem Unsichtbaren

Die Suche nach der Dunklen Materie dauert schon Jahrzehnten: Bereits vor 80 Jahren deutete sich an, dass die Anziehungskraft von Himmelskörpern, selbst von ganzen Galaxien und Galaxiengruppen bei weitem nicht ausreicht, um ihren Lauf und Zusammenhalt im All zu erklären. 1932 fand der niederländischer Astronom Jan Hendrik Oort heraus, dass unsere Milchstraße zu schlank ist, stärker zusammengezogen, als die Massen der hunderte Milliarden Sterne, aus der sie besteht, es vermögen. Genauere Messungen in den 1960er Jahren zeigten, dass Galaxien sogar auseinanderfliegen müssten, weil die Schwerkraft nach klassischen Berechnungen nicht ausreicht, ihre Form zu wahren. Zu diesem Zeitpunkt mussten die Astronomen die anfangs verlachte, unbekannte, „dunkle“ Form der Materie ernst nehmen.

Mit kollidierenden Blei-Atomkernen erzeugten die Physiker subatomare, zehn Milliarden Grad heiße Mikro-Feuerbälle.
Mit kollidierenden Blei-Atomkernen erzeugten die Physiker subatomare, zehn Milliarden Grad heiße Mikro-Feuerbälle.
Foto: CERN

Heute ist das Standardmodell der Kosmologie nicht nur ganz auf Dunkle Materie ausgerichtet, sondern sogar nach ihr benannt: Lambda-CDM für „cold dark matter“. Aber trotz aller Anstrengungen der Forscher versagen alle bisherigen theoretischen Lösungsansätze. Erst recht gelangen noch keine experimentellen Nachweise. So weiß immer noch niemand, was Dunkle Materie eigentlich ist und aus welchen Elementarteilchen sie besteht. Kandidaten ergeben sich aus der Theorie der Supersymmetrie, welche, träfe sie zu, die Artenvielfalt im Teilchenzoo verdoppeln werden. Danach gibt es zu jedem Elementarteilchen einen verwandten Partner, der sich theoretisch nur im „Spin“, ungefähr mit einem Drehimpuls zu vergleichen, unterscheidet (wie sich herausstellte auch in der Energie = Masse). Einer von ihnen, genannt „Neutralino“, wird als heißer Kandidat für die Dunkle Materie gehandelt.

Wie die Dunkle Materie, löst auch die Supersymmetrie etliche Probleme der theoretischen Physik. Aber sie leidet unter dem gleichen Problem: Die Teilchen konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Dabei hatten die Theoretiker große Hoffnung auf den LHC gesetzt. Doch in den gut drei Jahren seiner ersten Betriebsperiode konnten nur einige Theorievarianten widerlegt werden, von den Teilchen fehlt bisher jede Spur. Nun hoffen die Wissenschaftler auf den „Vollgas-Modus“ der großen Maschine.

Ist die Dunkle Materie am Ende ein Rechenfehler?

Und wenn es wieder nicht klappt? Dann muss eine noch größere Maschine her, sagen manche Wissenschaftler. Andere dagegen meinen, man müsse schon jetzt neu denken und alternative Theorien entwickeln. Einer von ihnen, hierzulande der bekannteste, ist der Bonner Astrophysiker Pavel Kroupa. Auch der gebürtige Tscheche rechnete zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn noch mit der Dunklen Materie. Doch bei näheren Untersuchungen von Sternverteilungen und der Bildung von Galaxien kamen ihm immer mehr Zweifel. Heute vertritt er die Meinung, Dunkle Materie existiere überhaupt nicht. Stattdessen unterstützt er die MOND-Theorie des israelischen Physikers Mordehai Milgrom, nach der die Newtonschen Gesetze der Anziehungskraft modifiziert werden müssen, um auch in kosmischen Maßstäben gelten zu können. Dieser Ansatz – und seine hochkomplizierte Erweiterung durch den angesehenen Physiker Jacob Bekenstein, gleichfalls Israeli, sind derzeit noch eine Minderheitenmeinung. Doch das könnte sich ändern, falls die Genfer „Weltmaschine“ in den kommenden Jahren keine Dunkle Materie findet und auch sonstige direkte Nachweise ausbleiben. Der nächste Lauf des LHC wird für sie der entscheidende.

Eine schöne Theorie in Beweisnot

Nicht anders für die „Supersymmetriker“. Was tun sie, wenn der Teilchenbeschleuniger auch in den kommenden Jahren nichts findet? Werden sie neue Modelle entwickeln, mit Teilchen knapp oberhalb der Leistungsfähigkeit des LHC, wie ein Physiker es auf einer Konferenz „androhte“? „Man kann beliebig viele supersymmetrische Modelle machen“, erklärte Eugene Commins, emeritierter Physikprofessor in Berkeley, dem US-Wissenschaftsmagazin „Scientific American“: „Ein guter Theoretiker kann sich innerhalb von einer halben Stunde ein neues Modell ausdenken, und den Experimentator kostet es dann 20 Jahre, es wieder abzuschießen.“

Doch es kostet nicht nur viel Zeit, solche Experimente durchzuführen, sondern auch jede Menge Geld. Weit über drei Milliarden Euro hat der LHC gekostet, die jährlichen Betriebskosten betragen etwa ein Zehntel davon. Die Baukosten des nächsten Riesenbeschleunigers werden auf fünf bis zehn Milliarden geschätzt. Ist das noch zu finanzieren? Würde das zu Lasten anderer wichtiger Wissenschaftsprojekte gehen?

Noch hat der LHC Reserven „im Keller“. Die Maschine kann noch getuned werden. Für 2020/21 ist geplant, seine Messempfindlichkeit um den Faktor 10 zu steigern. Auch Umbauten zu einem ganz anderen Beschleunigertyp sind in späteren Jahren denkbar. Zudem werden seit einigen Jahren neue Konzepte von lasergetriebenen Beschleunigern getestet, die nur wenige Zentimeter groß sind (die Laser allerdings füllen eine Fabrikhalle). Es gibt also noch viel Beschäftigung für experimentelle Teilchenphysiker.