Rheinland-Pfalz

Klimawandel führt zu saustarken Zuwächsen

Wildschweine verwüsten Vorgärten und Felder, veranstalten eine Riesensauerei in einer Metzgerei und kämpfen mit Glastüren im Baumarkt. Warum Borstenviecher von Zeit zu Zeit ausrasten, wissen auch Experten nicht so genau. Umgepflügte Gärten und Wildunfälle auf den Straßen aber sind vor allem auf zwei Ursachen zurückzuführen: Das Schwarzwild hat sich in den vergangenen Jahrzehnten extrem vermehrt, gleichzeitig werden die Lebensräume der Tiere eingeengt.

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Von unserem Redakteur Michael Stoll

Rheinland-Pfalz – Wildschweine verwüsten Vorgärten und Felder, veranstalten eine Riesensauerei in einer Metzgerei und kämpfen mit Glastüren im Baumarkt. Warum Borstenviecher von Zeit zu Zeit ausrasten, wissen auch Experten nicht so genau. Umgepflügte Gärten und Wildunfälle auf den Straßen aber sind vor allem auf zwei Ursachen zurückzuführen: Das Schwarzwild hat sich in den vergangenen Jahrzehnten extrem vermehrt, gleichzeitig werden die Lebensräume der Tiere eingeengt.

Ein Indiz für das Anwachsen der Populationen sind die jährlichen Jagdstrecken. Allein in Rheinland-Pfalz wurden im Rekordjahr 2008/2009 rund 80 000 Wildschweine erlegt. Von April 2009 bis März 2010 waren es dann zwar nur noch 39 000, eine erste Zwischenbilanz im laufenden Jagdjahr zeigt aber, dass sich die Bestände offenbar schon wieder erholt haben: Bis Ende Dezember wurden im Land rund 50 000 Stück gezählt. Bundesweit lagen die Jagdstrecken in den 1960er-Jahren im Schnitt noch bei 30 000 Tieren. Seit den 80ern lassen sich jedoch immense Steigerungsraten mit immer größeren Sprüngen erkennen. Nach 2000 wurden bereits mehr als 500 000 Sauen erlegt. Und im Rekordjahr 2008/2009 zählte der Deutsche Jagdschutzverband (DJV) eine Strecke von knapp 647 000 Stück, ein Jahr später immerhin noch 440 000. Im Vergleich mit den 1950er-Jahren gibt es heute 20-mal so viele Wildschweine, bringt Frank Ridderbusch, Jagdreferent des Ministeriums für Umwelt, Forsten und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz, das Problem auf den Punkt.

Bestand in einem Jahr verdreifacht

Trotz des anhaltenden Trends nach oben sind „starke Schwankungen von Jahr zu Jahr normal beim Schwarzwild“, kommentiert DJV-Präsident Jochen Borchert die Streckenergebnisse der vergangenen Jahre. Einen Einbruch oder gar Rückgang der Population verkraften die Vierbeiner locker, denn „sie können ihren Bestand innerhalb eines Jahres sogar fast verdreifachen, wenn Klima und Nahrungsangebot stimmen“. Und sollte mal ein kaltes Frühjahr zur hohen Sterblichkeit beim Wildschweinnachwuchs führen, dann können die Verluste über zweite Würfe ausgeglichen werden. Bis zu acht Junge vermag eine Bache, das weibliche Wildschwein, pro Wurf zu säugen. Für Nachwuchs ist also stets gesorgt. Und natürliche Feinde haben die Sauen in unseren Breiten kaum – bis auf den Luchs im südlichen Rheinland-Pfalz. Neben dem Menschen kann also nur die Natur selbst mit Krankheiten wie der Schweinepest und langen und strengen Wintern sowie Engpässen beim Nahrungsangebot die gar nicht so wundersame Vermehrung der Borstentiere eindämmen. Aber auch das klappt nicht mehr so ganz: Der ein oder andere Winter ist zwar noch kalt, insgesamt aber wird’s wärmer. „Wildschweine sind in hohem Maße Nutznießer des Klimawandels“, erklärt Ridderbusch. „In den vergangenen 30 Jahren wurden starke Bucheckern- und Eichelmasten immer häufiger. Früher warfen die Bäume alle sieben bis fünf Jahre so viele Früchte und Samen im Herbst ab, heute alle vier bis drei Jahre.“ Gleichzeitig setzt die Forstwirtschaft stärker auf Laub- statt Nadelgehölze. Schwein gehabt, denn in Laubwäldern ist der Tisch für Sauen und Keiler nun fast jedes Jahr reich gedeckt.

Ridderbusch nennt weitere Gründe, warum sich die Vierbeiner unter veränderten Lebensbedingungen sauwohl fühlen: Flächenstilllegungen, zum Beispiel in verbuschten Weinbergen unserer Flusstäler, führen zu Ansiedlungen ganzer Wildschweinhorden. Hier finden sie ganzjährig Nahrung, es ist warm, und die nahezu unzugänglichen Reservate bieten Schutz. Nicht anders in der Landwirtschaft: Statt vieler kleiner Äcker gibt es heutzutage große Maisfelder oder Rapsschläge – ein Dorado für schweinische Feinschmecker und zugleich ein perfektes Versteck. Schließlich bietet sich den Tieren dank der naturnahen Forstwirtschaft optimaler Unterschlupf in Dickungen – die natürliche Verjüngung des Waldes führt nämlich dazu, dass große Flächen nicht mehr einzusehen sind.

Und noch ein Phänomen spielt eine große Rolle: Die Sau ist schlau. Wenn sie ausreichend Nahrung finden, erklärt Erhard Bäder, Geschäftsführer des Landesjagdverbandes Rheinland-Pfalz, führen die Leitbachen (erfahrene Muttertiere, die die Sippen kommandieren) ihre Rotten nämlich nicht zu den Kirrungen, wo Jäger Körnerfutter auslegen und zum Abschuss ansitzen. „60 bis 80 Prozent der Wildschweine werden aber gewöhnlich an den Kirrungen erlegt“, so Bäder. „Gehen die Sauen nicht dorthin, dann beeinträchtigt das die Jagd natürlich.“ Das sogenannte „Ankirren“ wird auch vom Ministerium unterstützt. „Wir können es uns nicht leisten, landesweit auf die Kirrjagd zu verzichten“, sagt Frank Ridderbusch. Diese Variante der Jagd habe nichts damit zu tun, dass bei manch einem Waidmann in den 80er-Jahren der Hegegedanke dazu geführt hat, dass Wildschweine sogar gefüttert wurden.

Territorium wird zurückerobert

Gleichzeitig passt sich das Wild an die fortschreitende Zersiedelung der Landschaft und immer neue Bau- und Gewerbegebiete an Ortsrandlagen gut an – sehr zum Leidwesen der Menschen. Ein erfahrener Jäger sagt: „Die Sauen waren zuerst da. Sie erobern sich ihr Territorium zurück. Dabei hilft ihnen ihre Intelligenz – die Jungen lernen schon von der Mutter, dass ihnen in bebauten Gebieten keine Gefahr droht, denn hier ruht gewöhnlich die Jagd.“ Und die Allesfresser merken rasch, dass hier problemlos Nahrung zu finden ist – sie lieben Blumenzwiebeln, Feldfrüchte und Kartoffeln, verschmähen aber auch Kompost oder Essensreste in Mülleimern und Komposthaufen nicht.

Nähert sich Schwarzwild einer Siedlung, haben die Bewohner meist nichts mehr zu lachen. „Das kann zur reinsten Plage werden“, weiß Frank Ridderbusch. „Die Schäden sind oftmals verheerend, und der Unmut der Betroffenen ist nur allzu verständlich.“ Wütet die wilde Wutz in Gärten oder öffentlichen Grünanlagen besonders arg, dann ist eine Ausnahme vom Jagdverbot möglich – erteilt wird die Genehmigung von der Unteren Jagdbehörde bei den Kreisverwaltungen. Ehe aber scharf geschossen wird, sollten Haus- und Grundstückseigentümer vorbeugen: Auf keinen Fall die Tiere füttern, Obst- und Gemüsereste, auch im Kompost, gehören nicht dorthin, wo Wildschweine auftauchen können. Kommt es zum Schaden im Wohngebiet, so Ridderbusch, sind Jäger nicht ersatzpflichtig. Heißt: Da Jäger aus benachbarten Revieren im Siedlungsbereich nicht schießen dürfen, müssen sie – anders als bei der Landwirtschaft – auch nicht für Verwüstungen aufkommen.

Faucht die Sau: Ruhe bewahren

Für die spektakulären Fälle, wenn Wildschweine einen Baumarkt im Gewerbegebiet oder eine Metzgerei in der Innenstadt heimsuchen, haben auch die Experten keine genaue Erklärung. Ein Jäger rätselt: „Es kann sein, dass die durch eine Jagd, durch Spaziergänger oder eventuell auch durch wildernde Hunde im Wald aufgescheucht werden. Dann geraten sie in Panik und treten die Flucht nach vorn an …“ Sollten einem Jogger oder Spaziergänger Borstentiere im Wald begegnen, so nehmen die scheuen Schweine in der Regel Reißaus. Bachen jedoch, die ihren Nachwuchs bedroht sehen, können mit einem Scheinangriff, einer Art Knurren und Ausblasen, reagieren. Dann sollte man nicht versuchen, sich an der Wutz vorbeizumogeln. Stehen zu bleiben, sich ruhig zu verhalten und sich langsam zurückzuziehen, sind in solchen Fällen richtige Verhaltensweisen.

Fakt ist: Je mehr Wildschweine es in einem Jahr gibt, desto eher häufen sich die Schadensfälle in Gärten, auf Feldern und durch Unfälle auf Straßen. „Wir kriegen das Problem nur dadurch in den Griff, dass mehr weibliche Tiere geschossen werden“, sagt Frank Ridderbusch. „Zwar beweisen die großen Strecken, dass die Jäger sehr wohl bemüht sind, zu Abschüssen zu kommen. Zusammen mit dem Landesjagdverband rufen wir die Jäger aber dazu auf, dass sie auch nach guten Abschussjahren nicht nachlassen.“ Was sie laut Erhard Bäder vom LJV auch nicht tun: „Wenn man weiß, welche Mühen und ,Sitzfleisch’ das Erlegen eines Wildschweins erfordert, dann dürfte eigentlich niemand mehr sagen, die Jäger strengten sich nicht an.“ Begleitende Maßnahmen: Die Schonzeit von Schwarzwild ist in Rheinland-Pfalz aufgehoben, das Ministerium fördert die Wildbretvermarktung, und auch die neue Jagdrechtsnovelle erleichtert laut Ridderbusch die Jagd. Das alles nutzt aber wenig, wenn den Jägern das nötige Quäntchen Waidmannsheil fehlt. So führt Erhard Bäder die positive Jagdbilanz 2008/ 2009 auf verstärkte Treib- und Drückjagden, vor allem aber auch darauf zurück, dass Anfang 2009 eine ausgedehnte Schneelage für ideale Jagdbedingungen sorgte.