Niederwörresbach

Junge Flüchtlinge: Endlich Zeit zum Erwachsenwerden

Lydia (links) und Ruta teilen ein ähnliches Schicksal und haben sich im Kinderheim Niederwörresbach kennengelernt.  Foto: Hosser
Lydia (links) und Ruta teilen ein ähnliches Schicksal und haben sich im Kinderheim Niederwörresbach kennengelernt. Foto: Hosser

Das Erste, was Lydia fühlt, als sie nach drei Tagen auf See in einem klapprigen Boot in Europa ankommt, ist die Erleichterung, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Hinter ihr liegen Monate voller Angst, Hunger, Durst, Gewalt und Tod. Von den 250 anderen Flüchtlingen, die mit ihr eingepfercht waren, haben 15 die Fahrt über das Mittelmeer nicht überstanden. Lydia hat Glück, noch am Leben zu sein.

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Von unserer Reporterin Silke Bauer

Die Jugendliche ist eine von mehreren Zehntausend Eritreerinnen und Eritreern, die jedes Jahr ihr Heimatland verlassen und sich auf die gefährliche Reise nach Europa machen. Seit zehn Monaten lebt sie zusammen mit 17 weiteren Flüchtlingen aus sechs Ländern im Kinder- und Jugendheim der Kreuznacher Diakonie in Niederwörresbach, einem gemütlichen Dorf im Landkreis Birkenfeld mit gerade mal rund 800 Einwohnern. Lydia ist ohne Eltern nach Europa gekommen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – so lautet der bürokratische Fachausdruck für Menschen wie sie. Was genau sie auf ihrer Flucht erlebt hat, darüber spricht Lydia mit den Erziehern nicht – noch nicht. „Die Jugendlichen haben mit Erwachsenen oft negative Erfahrungen gemacht, sie vertrauen ihnen nicht“, sagt Heimleiterin Sonja Orantek. Sexuelle Übergriffe während der Flucht sind keine Seltenheit.

Gemeinsam versuchen Mädchen, ihre Traumata zu verarbeiten

„Die Mädchen reden sehr viel miteinander über ihre Erlebnisse. Das hilft ihnen, die Traumata zu verarbeiten“, weiß die Heimleiterin. In Niederwörresbach kann Lydia ein ganz normaler Teenager sein und Fuß fassen in einem Leben, das so viel Ungewöhnliches zu bieten hat. Pommes mit Mayonnaise und Ketchup zum Beispiel, die zu den kulinarischen Lieblingsentdeckungen in Deutschland gehören.

„Mit den Flüchtlingskindern haben wir relativ wenige Probleme“, sagt Orantek. „Sie sind oft viel selbstständiger als ihre deutschen Altersgenossen. Häufig haben sie schon ihr eigenes Geld verdient und sind seit Jahren auf sich allein gestellt.“ Doch schnell erwachsen zu werden, bringt auch das ein oder andere Anpassungsproblem mit sich: Manche verstehen nicht, warum sie zu einer bestimmten Uhrzeit schlafen oder essen sollen. „In ihren Heimatländern hat ihnen das ja auch nie einer vorgeschrieben“, zeigen die Betreuer Verständnis. Das morgendliche Klingeln des Weckers führt ebenfalls hin und wieder zu Streit: „Zu Hause sind die Kinder zur Schule gegangen, wann sie wollten. Da war es egal, ob sie um 8 oder erst um 11 Uhr dort aufkreuzten“, sagt Diplom-Pädagoge Michael Schuhen.

Lydia ist inzwischen 18 Jahre alt. „Für gewöhnlich bleiben die Jugendlichen nur sechs bis zwölf Wochen bei uns und werden dann an andere Einrichtungen vermittelt“, sagt die Clearingbeauftragte Meike Juchem. Im Clearingverfahren werden Fragen zum Alter, zum seelischen und körperlichen Zustand geklärt und weitere Schritte geplant. Aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen sind die Plätze in den Nachfolgeeinrichtungen jedoch rar. Orantek hat entschieden, dass Lydia noch bis zum Sommer im Kinderheim bleiben darf. Dann macht sie ihren Hauptschulabschluss an der Berufsbildenden Schule Technik, wo sie auch einen Deutschkurs besucht. „Danach suchen wir für Lydia eine eigene Wohnung“, sagt Orantek. Mitarbeiter des Jugendamts werden die junge Frau im Alltag unterstützen. „In Eritrea gibt es keine Freiheit“, erzählt Lydia in gebrochenem Deutsch. Sie sitzt im Garten des Kinderheims und genießt die Abendsonne, neben ihr sitzt ihre Freundin Ruta, die ebenfalls aus Eritrea geflohen ist und die sie im Heim kennengelernt hat. Sie teilen eine ähnliche Geschichte. Die Mädchen haben den kleinen Staat in Ostafrika verlassen, um dem gefürchteten Militärdienst zu entgehen, der sowohl für Jungen als auch Mädchen ab dem 15. Lebensjahr Pflicht ist und durchaus ein ganzes Leben lang dauern kann. Der totalitäre Staat wird von Präsident Isayas Afewerki mit harter Hand regiert – wer sich weigert, der Armee beizutreten, dem drohen Folter, Gefängnis und Zwangsarbeit. Presse- und Meinungsfreiheit gibt es nicht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehören zum Alltag.

Zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Halbschwester flieht Lydia deshalb in den benachbarten Sudan. Dort arbeitet sie ein Jahr lang in einem Friseurladen. Auf die Zeit im Sudan folgt eine Odyssee: Zusammen mit ihrer Cousine macht sich Lydia auf nach Libyen. Dort verlieren sich die Cousinen aus den Augen.

Lydia schließt sich anderen Flüchtlingen an. Sie bezahlt einen Schlepper und gelangt in ein Boot nach Europa. Nach zehn Tagen ohne Trinkwasser ist endlich Land in Sicht. Der Freude folgt schnell die Ernüchterung: Die Flüchtlinge sind nicht in Italien, sondern erneut in Libyen gelandet, der Kapitän des Schiffs hatte die Orientierung verloren. Lydia und die anderen kommen in ein Flüchtlingslager, nach sechs Monaten gelingt ihr die Flucht. Wieder bezahlt sie einen Schlepper, wieder geht es auf ein Boot in Richtung Italien, wieder quälen sie Hunger und Durst.

Über Italien und Frankreich führt die Flucht nach Deutschland

In Italien wird sie von der Polizei drei Tage lang inhaftiert, schließlich bringt man sie in ein Kinderheim. „Fahr nach Deutschland, dort hast du bessere Chancen als hier“, raten ihr die anderen Kinder. Lydia läuft weg aus dem Heim, macht sich über Frankreich auf den Weg nach Deutschland. In Kaiserslautern wird sie von der Bundespolizei aufgegriffen. Die Beamten verständigen das Niederwörresbacher Kinderheim. Das war vor fast einem Jahr. Seitdem wohnt Lydia in dem Hunsrückdorf und kann endlich zur Ruhe kommen. Inzwischen hat sie eine Aufenthaltserlaubnis.

Dennoch: „Die Traumata werden irgendwann wieder hochkommen“, weiß Michael Schuhen. Viele der Kinder weinen nachts, einige wenige sind aggressiv. „Das bringt uns Betreuer oftmals an unsere emotionalen Grenzen.“ Doch Schuhen und seine Kollegen machen weiter. „Wir müssen für die Kinder da sein“, sagt er. Die Arbeit wird immer mehr. Jeden Tag stechen weitere Flüchtlingsboote in See.