Berlin

Interview mit der Kanzlerin: Merkel ist stolz auf die Deutschen

Ein Selfie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel - für den erst kürzlich aus Syrien gekommenen Flüchtling Rodin Saouan ist es ein glücklicher Moment. Er wird das Foto nach Hause schicken, als Beweis dafür, dass er in Deutschland angekommen ist.
Ein Selfie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel - für den erst kürzlich aus Syrien gekommenen Flüchtling Rodin Saouan ist es ein glücklicher Moment. Er wird das Foto nach Hause schicken, als Beweis dafür, dass er in Deutschland angekommen ist. Foto: dpa

Deutschland sorgt derzeit international für positive Schlagzeilen, weil es überproportional viele Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsgebieten im Nahen Osten aufnimmt. Aber ist das Land dem Ansturm überhaupt gewachsen? Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht im Exklusiv-Interview mit unserer Zeitung darüber, wie die Integration gelingen kann und wie auch widerstrebende EU-Staaten ins Boot geholt werden können.

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Deutschland zeigt sich beispiellos solidarisch in diesen Tagen. Sind Sie stolz auf das Land?

Ich habe am Montag nach dem wirklich atemberaubenden Wochenende gesagt, dass Deutschland ein Bild gezeigt hat, das uns ein Stück weit auch stolz machen kann auf unser Land. Ich freue mich sehr über die Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit, die so viele Bürger in dieser nicht einfachen Situation zeigen.

Ist das für Sie auch ein wenig überraschend?

Es freut mich einfach sehr, und ich möchte den vielen Freiwilligen und Ehrenamtlichen genauso wie den Helfern der Polizei, der Hilfswerke und in allen Ämtern und Behörden von Herzen für ihren Einsatz danken und hoffe, dass ich niemanden vergessen habe.

Das Bild des toten syrischen Jungen an einem Strand in der Türkei hat viele Menschen aufgerüttelt. Was haben Sie persönlich empfunden?

Das Bild hat mich erschüttert und traurig gemacht – und auch wütend auf die Schlepper, die die verzweifelten Menschen in Schlauchbooten ohne Rettungswesten auf See lassen. Wir stehen in Europa vor einer unserer größten Herausforderungen seit Jahrzehnten: Einerseits müssen wir alles tun, auf hoher See und in den Herkunftsländern der Flüchtlinge, dass nicht immer wieder Menschen auf einer lebensgefährlichen Reise nach Europa ihr Leben lassen. Andererseits müssen wir große Zahlen von Menschen bei uns aufnehmen und sie, sofern sie ein Bleiberecht haben, in unsere Länder integrieren. Wir sollten uns dabei an unsere Grundwerte erinnern, uns von Artikel 1 unseres Grundgesetzes leiten lassen: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland pro Jahr vertragen, um sie gut aufzunehmen?

Da kann es keine einfache Zahl als Antwort geben. Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen. Doch es kommen auch Menschen aus sicheren Staaten, gerade vom Balkan, zu uns mit dem – aus ihrer Sicht – verständlichen Wunsch, ein besseres Leben zu führen. Aber wenn sich keine Asylgründe ergeben, und das ist bei diesen Menschen in fast allen Fällen so, dann müssen sie rasch in ihre Länder zurückkehren. Deshalb werden wir die Asylverfahren beschleunigen. Gleichzeitig wollen wir aber für eine kleinere Zahl von Menschen vom Balkan die legale Einwanderung ermöglichen, etwa wenn sie einen Arbeitsplatz hier vorweisen können.

Selbst wenn nur die Hälfte der Asylbewerber in diesem Jahr bleibt, kommen durch den Familiennachzug schnell eine Million Menschen dauerhaft zu uns.

Ich beteilige mich nicht an Schätzungen. Wir können auch nicht wissen, wie viele wieder in ihre Länder zurückkehren werden, wenn sich die Lage dort eines Tages hoffentlich wieder bessert. Aber kein Zweifel: Viele werden bleiben. Darin sollten wir vor allem auch eine Chance sehen. Wenn wir Bildung und Integration ermöglichen, werden die Menschen, die zum Beispiel aus Syrien bei uns Zuflucht gefunden haben, unserem Land viel zurückgeben. Lassen Sie uns offen und mit Zuversicht an die Aufgabe herangehen.

Sie haben vergangenes Wochenende die Ausreise Tausender Flüchtlinge aus Ungarn über Österreich nach Deutschland ermöglicht. Bleibt es bei dieser Ausnahme?

Das war eine Entscheidung, die der österreichische Bundeskanzler und ich in einer extrem zugespitzten humanitären Lage gefällt haben. Es ging um Menschen in großer Not. Diese Entscheidung ändert nichts daran, dass die Regeln, die wir uns in Europa gegeben haben, gelten und alle Mitgliedstaaten sich daran zu halten haben. Klar ist aber auch, und darauf arbeite ich mit anderen Regierungschefs und der Europäischen Kommission hin: Wir brauchen eine faire Lastenverteilung in Europa, wenn es darum geht, Flüchtlinge aufzunehmen.

Die CSU war über Ihren Alleingang verärgert. Gibt es keine einheitliche Flüchtlingspolitik in der Union?

Wir haben im Koalitionsausschuss ja gemeinsam gute Ergebnisse erzielt, die wir jetzt auch gemeinsam umsetzen wollen. Aber nicht allein der Beschluss, sondern die Umsetzung von Verbesserungen ist der zentrale Punkt. Im Übrigen leistet gerade Bayern herausragende praktische Arbeit bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen – und daran hat die CSU-Landesregierung großen Anteil.

Wird es bis Winter überall in Deutschland winterfeste Unterkünfte geben?

Wir tun, was wir können, um dieses Ziel zu erreichen. Der Bund stellt Ländern und Kommunen seine Liegenschaften dazu kostenlos zur Verfügung.

Ist ein Zelt eine menschenwürdige Winterunterkunft?

Es gibt wintertaugliche Zelte, wenngleich diese Form der Unterbringung eher die Ausnahme sein dürfte. Wir versuchen im Übrigen zu vermeiden, dass Schulturnhallen dauerhaft belegt werden.

Wir brauchen vor allem Personal. Lehrer, Erzieher, Polizisten. Wo soll das herkommen?

Es wird gehen, wenn wir an einigen Stellen auch etwas flexibler werden und von den üblichen strengen Anforderungen abrücken, um beispielsweise genügend Deutschlehrer für Flüchtlinge zu bekommen. Wir müssen improvisieren, vielleicht pensionierte Lehrer und Erzieher reaktivieren oder Studierende einsetzen. Es bringt ja nichts, Menschen unversorgt zu lassen, weil Lehrer noch nicht die allerhöchste Qualifikation haben. Über all das werden wir mit den Ländern sprechen.

In der Europäischen Union ist die Solidarität mit den Flüchtlingen unterschiedlich ausgeprägt. Wie wollen Sie die EU-Partner zu mehr Unterstützung bewegen?

Ich habe zusammen mit Frankreichs Präsident Hollande eine Initiative für eine verbindliche Verteilung bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Europa ergriffen. Die EU-Kommission denkt in dieselbe Richtung. Die EU-Justiz- und Innenminister beraten am Montag über dieses Thema. Wir brauchen auch mehr Hilfen für die Flüchtlingszentren an den Außengrenzen Europas. Die Aufnahme der Flüchtlinge muss in der EU gemeinschaftlich gelöst werden. Europäische Solidarität bedeutet, dass alle mitziehen.

Ansonsten drohen Sie damit, das Schengen-Abkommen außer Kraft zu setzen?

Jeder weiß, dass Schengen nur funktionieren kann, wenn die Außengrenzen der EU gesichert sind. Doch ich gehe nun wirklich nicht mit Drohungen in die Gespräche, sondern mit guten europäischen Argumenten.

6 Milliarden Euro mehr für die Flüchtlingshilfen aus dem Bundeshaushalt. Wird der Bund dafür an anderer Stelle Ausgaben streichen, etwa für das Betreuungsgeld?

Wir haben uns noch nicht abschließend darüber verständigt, was mit den Mitteln für das Betreuungsgeld geschehen soll. Für 2016 wird ja schon bewilligtes Betreuungsgeld noch ausbezahlt. Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist derzeit gut, und die Bundesregierung hat mit ausgeglichenen Haushalten dazu entscheidend beigetragen. Die Kosten für die Aufnahme der Flüchtlinge können wir also tragen.

Der Abbau der kalten Progression im Steuerrecht kommt also wie beschlossen?

Ja.

Viele unserer Leser fragen, ob man nicht den Soli umwidmen könnte für die Flüchtlingskosten.

Steuern nur für einen einzigen, ganz bestimmten Zweck zu erheben, ist nicht möglich. Die Leser können allerdings darauf vertrauen, dass unsere Haushaltslage es uns ermöglicht, notwendige Mittel für die Flüchtlingsunterbringung aufzubringen.

In Heidenau haben Sie die Schattenseiten der Flüchtlingsfrage erlebt, den Hass gegen Fremde. Ist der Frust größer geworden oder ist er durch die sozialen Netzwerke nur transparenter?

Das ist schwer zu sagen. Erinnern wir uns an den Anfang der 90er-Jahre, als es schlimme Vorfälle gab. Fremdenhass ist also wirklich nichts Neues. Sicherlich kann eine teilweise enthemmte Kommunikation in den sozialen Netzwerken dazu beitragen. Auch auf den Demonstrationen geben sich Rechtsextreme ganz offen zu erkennen. Besonders traurig finde ich, wenn manche Bürger nichts dabei finden, einfach nebenherzulaufen und solche Parolen dadurch noch zu verstärken. Deswegen sage ich allen, entschieden und überall von den Menschen mit Hass im Herzen Abstand zu halten. Die wollen nichts Gutes.

Muss die Politik bei Facebook einschreiten?

Wenn Menschen unter ihrem Namen in den sozialen Netzwerken Volksverhetzung betreiben, muss nicht nur der Staat agieren, sondern auch Facebook sollte gegen diese Parolen vorgehen. Die Regeln dazu hat Facebook, sie müssen nur angewandt werden.

Das Interview führten Eva Quadbeck und Michael Bröcker