In memoriam: Weizsäcker – Der geläuterte Deutsche

Porträt Weizsäcker 100z dpa Foto: picture alliance

Angela Merkel ist extra ins Kanzleramt geeilt, ganz in Schwarz. Die Kanzlerin äußert sich tief betroffen: „Richard von Weizsäcker war eine der wichtigsten und geachtetsten Persönlichkeiten unseres Landes.“ Sein Tod sei „ein großer Verlust für Deutschland“. Wenige Hundert Meter entfernt tragen sich Bürger im Schloss Bellevue in ein Kondolenzbuch ein, Bundespräsident Joachim Gauck würdigt seinen Vorgänger als „moralische Instanz“.

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Am Samstag starb das sechste Staatsoberhaupt der Bundesrepublik im Alter von 94 Jahren. Von Weizsäcker war auch der Bundespräsident der Einheit, er hat früh die Ostpolitik Willy Brandts gegen konservative Widerstände unterstützt, die Überwindung der Spaltung Europas und Deutschlands war ihm „ein Herzensanliegen“, betont Merkel. Die frühere DDR-Bürgerin wird ungewohnt persönlich: „Ich werde nie seine Ansprache vom 3. Oktober 1990 vergessen und meinen inneren Jubel, als er sagte: ‚So erleben wir den heutigen Tag als Beschenkte. Die Geschichte hat es dieses Mal gut mit uns Deutschen gemeint.’“

Der CDU-Politiker ist bis zu seinem Tod eine politische Autorität, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Als Präsident verkörpert er von 1984 bis 1994 nach Weltkrieg und Holocaust wie kaum ein anderer das geläuterte, weltoffene Deutschland. In der Bevölkerung gilt er als Idealtypus eines deutschen Staatsoberhaupts.

In allen Würdigungen wird vor allem an einen Moment erinnert. Am 8. Mai 1985 spricht von Weizsäcker vor dem Deutschen Bundestag: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Flucht und Vertreibung dürften nicht losgelöst von der Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte, gesehen werden. „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. Wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen“, sagt er. Es ist eine Demonstration seiner politischen Eigenständigkeit.

Für viele Konservative bleibt der 8. Mai ein Tag der Niederlage

Viele Konservative klatschen nicht, für sie bleibt es bei der Niederlage. Von Weizsäcker greift Fragen auf, die die 68er-Generation schon ihren Eltern stellte: „Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändung der menschlichen Würde? Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.“ Der Gedanke, dass der 8. Mai Befreiung war, ist schon damals nicht ganz neu. Dass er jedoch von einem Bundespräsidenten zu einer Zeit vorgetragen wird, da sein eigenes konservatives Lager zum Teil noch weit von derlei Erkenntnis entfernt ist, gibt der Rede eine andere Dimension.

Als junger Wehrmachtsoffizier nahm Richard von Weizsäcker am Widerstand nicht teil, sympathisierte aber mit ihm. Anders sein Vater Ernst. Die Amerikaner sahen in dem Staatssekretär unter den Nazis einen der vielen Schreibtischtäter. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen 1948/ 49 unterstützt Jurastudent Richard die Verteidiger des Vaters. In dieser Auseinandersetzung zeigt er – anders als der Großteil der Deutschen – schon wenige Jahre nach dem Krieg ein hohes Maß an Selbstkritik. Er war beim Einmarsch in Polen dabei, gleich am zweiten Kriegstag fiel sein Bruder Heinrich. Die Aussöhnung mit Polen macht er nach dem Krieg auch deshalb zu seinem Anliegen.

Der Freiherr, am 15. April 1920 in Stuttgart geboren, wächst im „preußischen“ Berlin heran. Er stammt aus dem schwäbischen Bildungsbürgertum – der Urgroßvater ist Theologe, der Großvater württembergischer Ministerpräsident, der Vater seit 1938 Staatssekretär im Auswärtigen Amt in Berlin. Großonkel, Onkel und Bruder Carl Friedrich sind renommierte Wissenschaftler. Anders als es die Familientradition vorgibt, geht er zunächst in die Wirtschaft – 1953 zu Mannesmann, 1962 bis 1966 in die Chefetage des chemisch-pharmazeutischen Unternehmens C. H. Boehringer in Ingelheim. Doch Anfang 1965 steht der CDU-Fraktionschef im rheinland-pfälzischen Landtag vor der Tür des Boehringer-Managers. Der erst 35-jährige Helmut Kohl will den zehn Jahre Älteren in die Politik „abholen“. Weizsäcker, seit 1954 CDU-Mitglied, sagt ab. 1969 kann er dann aber nicht mehr widerstehen.

Kohl versucht damals, die kleinbürgerlich geprägte CDU zu einer modernen Volkspartei zu machen. Der promovierte Jurist Weizsäcker passt dafür bestens ins Bild. Er gilt als liberal-konservativ und pflegt eine gewisse Weltoffenheit. Er ist ein Mann aus der Wirtschaft, Protestant und Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Und ein brillanter Redner.

Die Vorteile, die Kohl damals in der Person Weizsäcker noch sieht, führen letztlich zum Zerwürfnis zwischen dem Parteipatriarchen und dem „eigensinnigen“ Intellektuellen. Weizsäcker bleibt stets auf Distanz zum Parteiensystem. Anfang der 90er-Jahre hält er den Parteien gar vor, sie seien „machtversessen und machtvergessen“. Kohl sorgt zunächst dafür, dass Weizsäcker schnell Karriere macht. Bei der Bundestagswahl 1969 bekommt er einen sicheren Listenplatz, 1979 wird er Bundestagsvizepräsident. 1981 erringt Weizsäcker im zweiten Anlauf das Amt des Regierenden Bürgermeisters in der „Frontstadt“ Berlin.

Als junger Soldat war Weizsäcker tief beeindruckt von Stauffenberg

Dankbar zeigt sich Weizsäcker, dass die Wiedervereinigung in seine Amtszeit als Bundespräsident fällt. Er würdigt die Entscheidungen Kohls, die der Einheit vorausgingen, kritisiert aber, dass die Politik den Wählern im Westen vorgemacht habe, „die Vereinigung kostet euch nichts“.

Zum 20. Juli 2014 würdigt er den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg: „Ich war Stauffenberg schon 1942 begegnet. Eine eindrucksvolle Erscheinung mit leuchtenden Augen, charakterstark, mitreißend. Für mich, den jungen Soldaten Anfang 20, war es imponierend, ihn zu erleben.“ Diese so schwere Zeit ließ von Weizsäcker zeitlebens nicht los. Ruppert Mayr,

Von Georg Ismar und Thomas Lanig