Happy Birthday, Shakespeare: Dichterfürst des Abendlandes

Ob er sich's hätte träumen lassen, dass seine Stücke noch nach Jahrhunderten Millionen Menschen in ihren Bann ziehen? William Shakespeare wurde in Stratford-upon-Avon geboren, urkundlich belegt ist seine Taufe am 26. April. Der Sohn eines Handschuhmachers wurde zu einem der größten Dramatiker der Weltgeschichte, seine Geschichten vom „Sommernachtstraum“ über „Hamlet“ bis zu „Othello“ machen ihn unsterblich.

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Von unserem Autor Andreas Pecht

Jede Nation hat ihren klassischen Dichterfürsten, den Ersten unter den Großen der Poetik und Dramatik im Lande. Für Deutschland ist es Goethe, für Russland Puschkin, die Spanier haben Cervantes, die Franzosen Dumas. Doch über allen thront ein in diesen Apriltagen vor 450 Jahren geborener Engländer, der gemeinsamer Dichterfürst des gesamten abendländischen Kulturkreises geworden und bis heute geblieben ist: William Shakespeare.

Der Geistesgeschichte weit voraus

Vermutlich aus einfachen Verhältnissen stammend, hat der geniale Dramatiker die Bühnenfiguren aus der Bindung an göttergegebene Schicksalhaftigkeit befreit, an die sie seit dem antiken Theater gefesselt waren. Er ließ sie stattdessen in die Tiefen der eigenen Seele blicken – und dort einen monströsen Giganten von tausenderlei sich permanent wandelnder Gestalt finden: die menschliche Individualität. Damit war Shakespeare nicht nur der Entwicklung des europäischen Theaters, sondern dem Gang der Geistesgeschichte um Generationen voraus.

Gute zwei Jahrhunderte vor Aufkommen der Romantik hat er mit „Romeo und Julia” die romantische Liebe in die Welt gesetzt. Ein junges Paar, das sich seiner gegenseitigen Herzenszuneigung wegen über alle gesellschaftlichen Schranken, ja selbst den väterlichen Willen hinwegsetzt: für das 16. Jahrhundert eine ungeheuerliche Story. Mehr noch: Rund 350 Jahre vor Sigmund Freud thematisierte Shakespeare die Macht des Unterbewussten fürs menschliche Fühlen, Denken, Handeln. So liegt der Literaturwissenschaftler Harald Bloom wohl nicht falsch mit seiner Ansicht, Shakespeare habe den modernen Menschen erfunden.

Wenn im „Sommernachtstraum” durch schelmische Geisterhand die Objekte der Begierde durcheinandergeraten, kann das als humoriges Verwechslungsspiel belacht, aber zugleich als Fingerzeig auf die Wechselhaftigkeit der Libido gedeutet werden. Wenn in „Was ihr wollt” ein zum Jüngling verkleidetes Mädchen bei Gräfin wie Herzog Gefühle der Lust zu entzünden vermag, darf das als Andeutungsspiel mit Möglichkeiten latenter Homosexualität verstanden werden. In „Hamlet” begegnet uns ein vom Ödipuskomplex zerfressener Prinz, ein Melancholiker, gleichermaßen rational, brutal und verloren.

Ressort Kultur: „Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler.“ Mit diesen berühmten Worten beginnt ein Monolog in Shakespeares Komödie „Wie es euch gefällt“ von 1600. Der Monolog beschreibt die sieben Lebensalter des Menschen vom hilflosen Kleinkind bis zum Greisenalter, in dem der Mensch wieder so auf Hilfe angewiesen ist wie zu Beginn seines Lebens. Der Vergleich der Welt mit einer Bühne geht nicht auf Shakespeare zurück, sie ist erstmals bei Petronius im ersten nachchristlichen Jahrhundert belegt. Auf Shakespeares eigenem Theater, dem Globe Theatre in London (Foto), stand der Spruch leicht abgewandelt: „Die ganze Welt handelt als Schauspieler.“

Ressort Wirtschaft: „Gewinn ist Segen, wenn man ihn nicht stiehlt.“

Dieser Spruch des Shylock aus der dritten Szene der Shakespeare-Komödie „Der Kaufmann von Venedig“ (uraufgeführt 1600, das Foto zeigt Al Pacino als Kaufmann Shylock in der Verfilmung von 2004) ist zu einem der unzähligen geflügelten Worte nach Shakespeare geworden und musste in unseren Tagen auch schon als Werbung für Aktienfonds herhalten. Immerhin erlebte die Wirtschaft zu Shakespeares Zeit unter der Herrschaft der Königin Elisabeth (1558–1603) einen enormen Aufschwung, die erste Londoner Börse wurde gegründet, erste Expeditionen und der Beginn der Kolonialisierung legten den Grundstein für das spätere British Empire.

Ressort Sport: „Bin ich so rund mit Euch, als Ihr mit mir, dass Ihr mich wie ein Fußball schlagt und stoßt? Hin und zurück nach Lust schlägt mich ein jeder, soll das noch lange währen, so näht man mich erst in Leder.“ Dromio von Ephesus in William Shakespeares „Komödie der Irrungen“ von 1592. Der Autor, der vor 450 Jahren geboren wurde, hat in seinen Schauspielen ein vielfältiges Zeugnis des Sports im Elisabethanischen Zeitalter hinterlassen. Dabei äußert er sich mehrfach kritisch gegenüber dem Fußball, damals ein äußerst brutal absolvierter Volkssport.

Ressort Panorama: „Hörst du? Die Schwindsüchtigen haben sich verschworen: Will Shakespeare hat ein Drama, gehn wir und husten es in Fetzen!“ Diesen Satz legt das Drehbuch des Films „Shakespeare in love“ (1998) Hauptdarsteller Joseph Fiennes (auf dem Foto neben Gwyneth Paltrow) in den Mund, als wieder einmal ein hustender Theaterzuschauer die Magie einer Liebesszene zerstört. Der Film von John Madden wurde mit sieben Oscars ausgezeichnet. Nicht nur das Leben Shakespeares ist ein beliebter Filmstoff: Nach seinen Werken entstanden bis heute mehr als 430 Kinofilme, damit ist der vor 450 Jahren geborene Dramatiker und Schriftsteller der meistverfilmte Autor der Menschheitsgeschichte.

Wie Hamlet das Gegenteil ritterlicher Heldenfiguren ist, so sind es auch fast alle Herrschergestalten im Shakespeare'schen Œuvre. Die Königsdramen lassen von Gier und Heimtücke geprägte, von Ängsten und Schwachheit getriebene, von inneren Furien gehetzte Charaktere das Walzwerk der Geschichte antreiben. Doch während bei Konkurrent Christopher Marlowe ein Schäfer mit geistiger und physischer Überlegenheit zum Gründer eines Weltreichs aufsteigt, greifen in Shakespeares Tragödien körperlich und seelisch „defekte” Gestalten nach der Macht und richten Königreiche zugrunde.

Othello lässt sich vom intriganten Jago den Stachel tödlicher Eifersucht ins Fleisch treiben, Macbeth vom Ehrgeiz der Gattin zum Königsmord verführen. Und überall im selbst gestrickten Schicksal lauert der Wahnsinn, wie ihn König Lear als Folge der eigenen Eitelkeit befällt in der wohl erschütterndsten Tragödie der Weltliteratur. Shakespeares Stücke sind ein gewaltiges Universum, das hohe wie einfache Menschen in ihrer individuellen Eigenartigkeit genau betrachtet und aus unterschiedlichsten Blickwinkeln ausleuchtet.

Besser gesagt: In diesen Stücken reflektieren die Figuren sich selbst und ihr seltsames bis fragwürdiges Miteinander. Fast nie sind sie von vornherein feststehende Typen, sondern fortwährend sich verändernde Charaktere. Dieses Œuvre ist ein Universum – und es ist universell, insofern seine Qualität des Erzählens es von zeitlicher und örtlicher Fixierung löst. Shakespeare-Stücke auf der Bühne – ob komisch, tragisch oder wie so oft beides zugleich –, das konnte nie museale Beschäftigung mit anno dazumal bleiben, sondern ist bis heute stets auf neue Weise interessanteste Befragung der Gegenwart.

Übersetzer, Regisseure, Schauspieler finden im grenzenlosen und allweil mehrdeutigen Shakespeare'schen Sprachkosmos noch immer nie zuvor erkannte Bedeutungsebenen. Da werden Täter auch zu Opfern, Narren zu Weisen – und umgekehrt. Da sind Frauen das klügere, sinnenfrohere, überlegenere Geschlecht, dann wieder boshaft und machtgierig wie Mannsbilder auch. Des Lebens und des einzelnen Menschen widersprüchliche Vielgestaltigkeit hat kein anderer Autor je so umfassend, kunstvoll und zugleich unterhaltend beackert wie William Shakespeare.

Aus Sprache wird die ganze Welt

Er packte Jahre in Momente, wechselte Orte und Perspektiven im Fluge – auf der fast leeren Bühne des Londoner Globe-Theaters. Allein gesprochenes Wort und Schauspielerkunst mussten die Fantasie des Zusehers derart anregen, dass er sich der Stücke Welt und Sinn in Gänze vorstellt. Dafür sind diese Werke gemacht, und unserer großen Illusionsmaschinen bedürfen sie ureigentlich nicht. Man lasse Shakespeare von versierten Mimen sprechen und spielen, dann entstehen im Geiste des aufmerksamen Publikums ohne weitere Hilfsmittel Kunsterlebnisse von starker Wirkung – dazu angetan, die stets aktuelle Frage nach Sein oder Nichtsein Maß für Maß zu überdenken wie es jedem gefällt, auch wenn am Ende selten alles gut wird.