Erziehung: Vor allem die Mittelschicht will alles richtig machen

Welcher Kinderwagentyp ist der richtige? Soll das Kind Englisch in der Kita lernen oder lieber gleich Chinesisch? Das Elterndasein in Deutschland fühlt sich heute anstrengender an als früher. Das jedenfalls geht aus einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der Zeitschrift „Eltern“ hervor. Demnach sprechen rund die Hälfte der befragten Männer (56 Prozent) und drei Viertel der Frauen (73 Prozent) von sehr hohen Ansprüchen und Anforderungen.

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Den Druck machen sie sich dabei aber vor allem selbst. Ein Mittelschichtphänomen, sagt der Sozialwissenschaftler Prof. Stefan Sell von der Hochschule Koblenz. Ein Gespräch über Eltern, die alles richtig machen wollen.

Stress und Druck für Eltern in Deutschland scheinen enorm zu sein. Ist das wirklich ein gesamtgesellschaftliches Phänomen?

Die Diskussion ist sicher weitgehend eine Mittelschichtsdiskussion. Aus vielen Studien wissen wir, dass der Einfluss des Familienhintergrunds, also vor allem der Eltern, auf ein Kind doppelt so stark ist wie der Einfluss, den sämtliche Bildungseinrichtungen ausüben. Wenn Sie diese Relation übertragen auf das Thema, dann heißt das natürlich, dieser Einfluss kann doppelt negativ oder doppelt positiv wirken. Kinder, die in schlechten Familienverhältnissen aufwachsen, sind dauerhaft abgekoppelt. Kinder, die in besseren Familienverhältnissen aufwachsen, bekommen, zugespitzt formuliert, das gesamte Arsenal der modernen Früh- und Spätförderung mit. Um diese Kinder beziehungsweise deren Eltern geht es hier. Eltern aus unteren Einkommensbereichen haben auch Stress, aber das ist oft ein ganz anderer Stress. Denen fehlt jeder Cent. Sie leiden darunter, dass unsere Gesellschaft eine extrem vergleichende Gesellschaft ist – und dass sie merken, dass ihre Kinder das spätestens in der Schule zu spüren bekommen.

Viele der befragten Eltern haben angegeben, dass sie sich den Druck, den sie verspüren, selbst machen. Wo kommt dieser Selbstoptimierungsdrang her?

Ich glaube, wir sehen jetzt die Ergebnisse einer Art extremen Individualisierung der vergangenen 20, 30 Jahre. Sie bestand darin, uns aus den Kollektiven, in die wir eingebettet waren und die uns ja durchaus auch eingeengt haben, immer stärker herauszulösen. Die aktuelle Elterngeneration ist ein Stück weit Produkt dieser Entwicklung. Diese Individualisierung koppelt sich mit etwas, das in dieser Form besonders in Deutschland ausgeprägt ist: einer starken Fokussierung auf das Kind. Dahinter steckt auch die Entwicklung, dass die Kinder in diesen Familien oft als „Projekt“ gesehen werden. Sie sind oft Wunschkinder, in die man dann alles investiert. Und ich meine das durchaus positiv. Aber das führt natürlich auch zu einer latenten Selbstüberforderung.

Ist das vielleicht auch eine Generationenfrage? Die Elterngeneration dieser Eltern hatte ja durchaus klarere Rollenvorgaben. Hatte sie es deshalb auch leichter?

Auf alle Fälle. Die Elterngeneration dieser Elterngeneration war noch sehr eingebettet in ihre Routinen und in ihre sozialen Verhältnisse und Rollen. Sie waren eben Arbeiter, Handwerker oder Beamte. Heute sind wir viel freier, haben viel mehr Wahlmöglichkeiten. Aber es gibt auch eine Schattenseite, nämlich dass sich die Einzelnen ständig fragen: Bin ich schuld, wenn etwas schiefläuft? Hätte ich noch mehr machen können? Früher hätten viele Eltern gesagt: So sind eben Kinder. Wenn die Kinder aus der Schule kamen, gab es etwas zu essen, dann sind die rausgegangen, und zum Abendessen waren sie wieder da. Was aber in der Zwischenzeit passiert ist, das wussten die Eltern nicht, und es hat sie auch nicht zwingend interessiert. Heute haben sich das Aufwachsen und die Kindheit vollkommen verändert. Kinder stehen viel mehr im Mittelpunkt.

Heute wollen die perfekten Eltern für ihre Kinder nur das Beste. Aber was macht das mit den Kindern?

Das hängt natürlich von der psychischen Verfasstheit des einzelnen Kindes ab. Aber es gibt Befunde, die darauf hindeuten, dass sich bestimmte Verhaltensweisen stärker ausprägen. Wir beobachten eine zunehmende Versorgungshaltung und Unselbstständigkeit. Ich spreche in diesem Zusammenhang auch von „Kokonjugendlichen“, die sehr behütet und beschützt werden. Wenn man den Kokon eindrückt, dann tut das weh. Aber das sind nicht alle Kinder, sondern oftmals Kinder, die aus einer Überbehütung hervorgegangen sind.

Welche Schlüsse lassen sich aus den Ergebnissen der Studie ziehen?

Die Studie ist insofern hilfreich, als sie den Fehler nicht nur im System sucht, sondern vor allem bei der Selbstüberforderung des Individuums ansetzt. Das heißt, man kann politisch noch so viel verändern, damit würde man ein zentrales Dilemma dieses Teils der Eltern nicht lösen. Das macht die Suche nach einer Lösung aber zugleich umso schwieriger. Denn anders als noch in den 60er- oder 70er-Jahren gibt es eben heute keine klaren Zuordnungen oder Rollenmodelle mehr. Heute stehen die einzelne moderne Mutter und der einzelne moderne Vater allein auf dem schwankenden Schiffsdeck. Es gibt keine Reling. Und das kostet nun mal unendlich viel Kraft.

Das Gespräch führte Angela Kauer