EU: Stoiber zähmt die Bürokratie-Welle

Sieben Jahre lang nahm der EU-Kritiker den Brüsseler Paragrafen-Dschungel unter die Lupe. Jetzt legt er den Abschlussbericht vor.

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Die Pizza Napoletana ist eine kreisförmige Backware mit variablem Durchmesser von höchstens 35 Zentimetern mit erhabenem Teigrand (Cornicione) und mit Belag bedecktem Inneren. Das Innere ist 0,4 Zentimeter dick, wobei eine Toleranz von plus/minus 10 Prozent zulässig ist, der Teigrand ist ein bis zwei Zentimeter dick. Die Pizza ist insgesamt weich und elastisch und lässt sich wie ein Buch zusammenklappen.„ Diese präzise Beschreibung des historischen italienischen Nationalgerichtes verdanken wir Europäer nicht einem unserer Sterneköche, sondern den Brüsseler EU-Beamten. Die Verordnung (EG) Nummer 509/2006 in der Fassung vom 14. Februar 2008 umfasst übrigens insgesamt 68 Seiten. Und sie gehört zu den Schlagern, mit denen Brüssel sich regelmäßig bei seinen Bürgern lächerlich macht.

Für Edmund Stoiber sind solche Regelungen ein rotes Tuch. “Dafür hat niemand Verständnis„, sagte der frühere bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende in Brüssel. Sieben Jahre lang hat der einstige EU-Kritiker eben die Europäische Union beraten, geholt vom scheidenden Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manual Barroso, um ein damals ganz und gar neues Prinzip durchzusetzen: “Nicht alles, was gut ist, ist auch gut, wenn es europäisch geregelt wird.„ Stoibers Mandat läuft am 31. Oktober aus. Jetzt stellte er seinen Abschlussbericht vor.

“Wir haben viel erreicht„, meinte er. Europaabgeordnete, Industrieverbände, Gewerkschaften – sie alle sekundierten mit Lobeshymnen für den bayerischen Löwen, dem bei seinem Amtsantritt bestenfalls Häme entgegenschlug. Zusammen mit 14 anderen Experten aus mehreren Mitgliedstaaten durchforstete die hochrangige Arbeitsgruppe Bürokratieabbau seither die wichtigsten Rechtsbereiche der Union. Immer mit der Frage im Hinterkopf: Wo können Vorschriften ohne Verlust an Sicherheit oder Gemeinsamkeit gestrichen werden, um Betriebe und Unternehmen von Verwaltungskosten zu entlasten?

27 Prozent der Vorschriften sind gekippt worden

Der Erfolg gibt dem Unternehmen recht: Insgesamt wurden rund 27 Prozent der Verwaltungsvorschriften gekippt, was mehr als 33,4 Milliarden Euro pro Jahr an Einsparungen bringt, weil keine Statistiken, Berichte oder Aufstellungen mehr nach Brüssel geliefert werden müssen. Allein die deutschen Firmen wurden um 6,5 Milliarden Euro entlastet. Stoiber: “Wir haben viel mehr erreicht, als wir erwartet hatten.„ Dabei ging es keineswegs nur um Pizza-Definitionen (der Verordnung geht es übrigens gut, sie hat bisher überlebt) oder die sogenannte Verordnung DIN EN 12586, besser bekannt unter ihrem Spitznamen “Schnullerketten-Verordnung„. Auf sage und schreibe 52 Seiten enthielt das inzwischen gekippte Papier Vorschriften für Spielehersteller, die die 22 Zentimeter lange Kette mit bunten Holzperlen im Angebot hatten.

Weitaus wirksamer sind andere Neuerungen: So setzte die Stoiber-Gruppe durch, dass die rund 50 Millionen jährlich anfallenden Mehrwertsteuer-Berechnungen in der EU vereinheitlicht und elektronisch möglich wurden. Einsparvolumen: 18 Milliarden Euro. Weitere 7,5 Milliarden Euro werden erst gar nicht ausgegeben, weil überflüssige Auflagen bei Handelsbilanzen gestrichen wurden.

Den Teufel, den die Experten suchten, fanden sie oft genug im Kleingedruckten: “In Brüssel macht sich keiner eine Vorstellung davon, was es die Kommunen kostet, einen Auftrag innerhalb der ganzen Gemeinschaft auszuschreiben, obwohl nur wenige ortsnahe Anbieter infrage kommen„, dozierte Stoiber vor Jahren, nachdem man die Pflicht zur EU-weiten Ausschreibung für Schulbücher angegangen war. Die Beispiele sind zahlreich: Aufgrund einer EU-Vorschrift sind Lkw um genau 40 Zentimeter zu kurz, um die international üblichen Norm-Container zu befördern. Für jede Fahrt war deshalb lange eine Sondererlaubnis nötig. Noch immer müssen Betriebe jährlich Berichte zu 1070 Umweltthemen nach Brüssel schicken, was zwischen 20 und 24 Prozent der Investitionen, die diese Unternehmen tätigen wollten, auffrisst. Dabei entstammen solche Auflagen häufig nicht einmal den europäischen Beamten-Gehirnen, sondern werden von Interessenverbänden selbst initiiert – oft genug übrigens mit dem Hintergedanken, die Konkurrenz dadurch auszuschalten. So drängt etwa das deutsche Friseurhandwerk weiter auf eine Regulierung zur Hygiene in den Salons. Rutschfester Fußbodenbelag, die exakte Lautstärke der Föhns – alles soll Brüssel regulieren.

Gerade Deutschland liegt bei den Anträgen an die EU ganz weit vorn. In Brüssel führen solche Wünsche zu umfangreichen Regelwerken, die nicht selten eine Art Arbeitsbeschaffungsprogramm für Satiriker und Comedians sind – wie der später abgeschmetterte Vorschlag, Landwirte, die auf ihren Feldern Pflanzenschutzmittel ausbringen, sollten morgens allen Nachbarn rundherum per SMS Bescheid geben.

EU-Gesetze lösen Kosten in Höhe von 124 Milliarden Euro aus

“Nimmt man alle europäischen und nationalen Vorschriften zusammen, wenden die Betriebe in allen Mitgliedstaaten pro Jahr 360 Milliarden Euro auf – nur für bürokratische Anforderungen„, sagte Stoiber in einem Interview mit unserer Zeitung zur Mitte seiner Brüsseler Amtszeit. Jetzt bezifferte er die Kosten, die allein durch EU-Gesetze ausgelöst werden, auf 124 Milliarden Euro. “Ich würde mir wünschen, dass künftig bei jedem Gesetz, das ein Kommissar vorschlägt, immer sofort dazugesagt werden muss, wie hoch die dadurch verursachten Kosten sind„, ergänzte er.

Darin steckt ein Seitenhieb in Richtung der Mitgliedstaaten, die “mich massiv unterstützt haben„, aber das war’s dann auch. Ursprünglich hatte sich Kommissionspräsident Barroso nämlich vorgestellt, dass die europäische Anti-Bürokratie-Initiative Gleiches auf nationaler Ebene auslösen würde, um noch einmal etliche Milliarden an Einsparungen zu bringen. Doch davon ist nicht viel zu sehen. Von “großem Nachholbedarf„ sprach auch Stoiber.

Versandet jetzt die Entbürokratisierung?

Ob der Abschlussbericht, der Hunderte konkrete Vorschläge für weitere Maßnahmen enthält, nun auch ohne Stoiber umgesetzt wird, ist offen. In der neuen Kommission unter der Leitung von Jean-Claude Juncker soll ein hochrangiger Vizepräsident die Entbürokratisierung überwachen. Stoiber bot schon mal seinen “Rat und seine Erfahrung„ an, “falls das gewünscht wird„. Eine weitere Verlängerung an der Spitze der hochrangigen Arbeitsgruppe strebe er aber nicht an, betonte der Bayer. Barroso stand daneben, lächelte breit und gönnte seinem Kämpfer gegen den Paragrafen-Dschungel schließlich sogar eine herzliche Umarmung. Das war vor sieben Jahren ganz anders. Da ging der Ernennung Stoibers ein handfester Krach über Zuständigkeiten und Ausstattung der Expertengruppe voraus. Am Ende blieb es ein Ehrenamt ohne Honorar, Büro oder Sekretärin. Trotzdem sei ein “wertvoller Beitrag" herausgekommen, bemerkte Barroso ausdrücklich.

Detlef Drewes