Die Digitalisierung und ihre Folgen: Haben wir bald nichts mehr zu tun?

Die Digitalisierung ist in aller Munde. Kein Politiker kommt in seinen Reden noch aus, ohne mindestens einmal den „digitalen Wandel“ zu beschwören.

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Kein Firmenchef oder Topmanager, der noch nicht in der vermeintlichen Musterschule des digitalen Aufbruchs und Fortschritts, im kalifornischen Silicon Valley, auf Weiterbildungsreise war. Das neueste Trendwort lautet Arbeit 4.0 oder auch Industrie 4.0. Noch weiß niemand so genau, was damit eigentlich gemeint sein soll. Die Arbeitswelt soll jedenfalls vor radikalen Veränderungen stehen. Was bedeutet das für die, die arbeiten?

Der Prozess hat längst eingesetzt. In den Steuerungszentralen großer Produktionsanlagen geht gar nichts mehr ohne Computer, Roboter übernehmen längst Teile von Fertigungsprozessen. Aber heißt das, dass langfristig viele Jobs wegbrechen?

Bisher werden in der Politik vor allem die Chancen gesehen. Deutschland soll als Industrieland bei der Entwicklung von Hochtechnologie keinesfalls abgehängt werden. Auch deshalb ist das Thema plötzlich in der Agenda so weit nach oben gerutscht. Es sollen im Gegenteil sogar neue Arbeitsplätze entstehen. Wie, das ist bisher noch unklar. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt ihren Zuhörern in Reden gern, dass man schon in wenigen Jahren Autos ohne Fahrer auf den Straßen ganz normal finden wird. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat ein langes Konzeptpapier vorgelegt für die Umstellung auf Industrie 4.0.

Konkretes aber hat bisher noch niemand parat. Das Internet soll schneller und offener werden, das wollen alle. Beim Datenschutz will sich die Bundesregierung stärker engagieren, um Unternehmen besser vor Wirtschaftsspionage und Manipulation zu schützen. Außerdem will man endlich ein eigenes Silicon Valley. Internetriesen wie Google, Facebook und Co. sitzen allesamt in den USA.

Eine Revolution, die alles auf den Kopf stellt?

Ausgerechnet Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, eigentlich eine SPD-Gewerkschaftsfrau vom alten Schlag, die keine Betriebsbesichtigung übersteht, ohne sich vor Begeisterung selbst ein wenig die Hände schmutzig zu machen, hat das Thema Digitalisierung jetzt zu ihrer Chefsache gemacht. Seit Wochen berichtet sie bei Auftritten und Konferenzen, dass die nächste Revolution naht und nicht nur die Industrie, sondern auch die Arbeitswelt völlig auf den Kopf gestellt werden.

Nach der industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts kommt nun die digitale Revolution, glaubt Nahles. Ende 2016 will sie ein Weißbuch vorlegen mit Vorschlägen für die Arbeitswelt der Zukunft. Wie wird die Technik die Arbeit und den Bedarf an Berufen verändern? Wie wird die Digitalisierung Arbeitszeiten und die Vereinbarkeit für Familie und Beruf beeinflussen? Wie passt der junge Start-up-Gründer ins soziale Sicherungssystem hinein?

Antworten hat sie selbst noch keine. „Wir wissen noch nicht genau, was passieren wird. Aber wir wissen, dass wir digitaler, flexibler und vernetzter arbeiten werden“, sagte sie kürzlich bei einem Vortrag vor Studenten der Bundesagentur für Arbeit in Mannheim. Eine Hörsaalausstattung aus dem 3-D-Drucker, ein Leben ohne Bargeld, Fortbewegung per Autopilot – all das wird künftig möglich sein, ist sie überzeugt. Gleichzeitig werden die Menschen älter, arbeiten länger, und sie wollen neben der Arbeit auch noch Zeit für ihre Familie haben.

Andrea Nahles (SPD)
Andrea Nahles (SPD)
Foto: dpa

„Wir genießen mehr Flexibilität und Freiheit, wollen aber nicht auf Sicherheit verzichten“, beschreibt Nahles künftige Widersprüche. Als Kunden wollten wir alles am liebsten gestern haben, als Arbeitnehmer aber selbst nicht gern auf das freie Wochenende verzichten. „Wir sind selbst Treiber dieses Wandels“, meint Nahles. Sie will ihn „gestalten statt zu warten“.

An das Ende der Arbeit durch den digitalen Fortschritt, wie es unter Soziologen und Ökonomen bereits diskutiert wird, glaubt die Arbeitsministerin nicht. Die US-Forscher Carl Benedikt Frey und Michael Osborne von der Universität Oxford haben errechnet, dass in den USA bis 2030 47 Prozent aller Arbeitsplätze verloren gehen.

Der Ökonom Jeremy Bowles von der London School of Economics rechnet für Europa mit noch dramatischeren Folgen: 54 Prozent der Arbeitsplätze sollen hier dadurch verloren gehen, dass Computer und Roboter den Menschen ersetzen. Die Wirtschaftsgeschichte der vergangenen Jahrhunderte kann dies im Grunde nicht belegen. Durch die Industrialisierung zumindest sind vor allem neue Jobs entstanden. Technologischer Fortschritt hat keine Jobs im großen Stil und dauerhaft vernichtet.

Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind umstritten

Auch die Arbeitsministerin will das Thema positiv sehen. Dass Roboter künftig noch mehr Arbeitsprozesse ersetzen könnten, würde helfen, den künftigen Mangel an Fachkräften in Deutschland auszugleichen, meint sie. Die Digitalisierung ermöglicht aus ihrer Sicht auch neue Arbeitszeitmodelle. Schon heute könnten Controlling- und Prozesssteuerung von überall erledigt werden. Es müsste „neue Verabredungen“ zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geben.

Angesichts der derzeitigen Lage am Arbeitsmarkt ist das Thema Arbeit 4.0 allerdings auch ein Luxusthema. Der Boom auf dem Arbeitsmarkt hält noch an. Und die seit Langem voranschreitende Digitalisierung hat jedenfalls nicht verhindert, dass so viele Menschen in Deutschland in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis sind wie noch nie zuvor. Ein Wegfall von Arbeitsplätzen ist derzeit in Deutschland nicht auszumachen.

Möglicherweise werden die Umwälzungsprozesse der digitalen Revolution aber gar nicht so gewaltig sein wie die der industriellen Revolution. Produktivitätssteigerungen sind bisher auch nicht zu verzeichnen. Es gibt keinen Wachstumsschub der großen Volkswirtschaften durch die Digitalisierung.

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Robert Gordon erklärt die Hoffnungen auf das Informationszeitalter ohnehin schon jetzt zum Mythos. Er glaubt, dass die Digitalisierung die Folgen der alternden Gesellschaften für den Wohlstand der Industrieländer nicht abmildern können wird. Den letzten großen Produktivitätsschub sieht er in der industriellen Revolution. Andere halten die Folgen für noch gar nicht abschätzbar. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Folgen technischen Fortschritts erst nach Jahrzehnten zutage treten können. Rena Lehmann