Das Meer der Flüchtlinge – Deutscher Marineoffizier im Interview

Rund 300 deutsche Marinesoldaten beteiligen sich seit zwei Monaten am neuen EU-Militäreinsatz im Mittelmeer. Ihr Auftrag: Schleuserbanden auskundschaften, denen das Leben von Flüchtlingen ziemlich egal zu sein scheint. Im Interview berichtet Fregattenkapitän Marc Metzger (42), Führer des deutschen Einsatzkontingents im Mittelmeer, über die bislang kaum bekannte Arbeit der Feldnachrichtenkräfte und außergewöhnliche Erlebnisse.

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Offiziell wurden Sie ins Mittelmeer geschickt, um Informationen über die kriminellen Netzwerke der Schleuser zu sammeln. Seit Beginn des Einsatzes hört man aber eigentlich nur davon, dass Sie und Ihre Soldaten in Seenot geratenen Flüchtlingen das Leben retten. Kommen Sie angesichts der großen Anzahl dieser Rettungseinsätze überhaupt zur Aufklärung?

In der Tat berichten die Medien fast ausschließlich über die Einsätze im Rahmen der Seenotrettung. Auftrag der Schiffe des Eunavformed-Verbands ist es, Informationen über die kriminellen Netzwerke der Schleuser zu sammeln. Diesem Auftrag kommen wir ohne Einschränkungen nach. Wenn wir von einem Seenotfall erfahren oder zu Hilfe gerufen werden, stehen wir aber dafür selbstverständlich bereit. Die Hilfeleistung in See ist die Pflicht jedes Seefahrers.

Wie sammeln Sie denn Informationen über die kriminellen Netzwerke der Schleuser?

Die Schiffe des Verbands erstellen ein Lagebild. Um damit die eigenen Soldaten schützen zu können, erheben wir Informationen von den an Bord genommenen Menschen. Das geschieht durch Gespräche oder die Auswertung von Dokumenten. Wir erheben beispielsweise Informationen über Nationalität, Aufenthaltsort, Transitwege und nehmen Fingerabdrücke und Lichtbilder.

Werden die Geretteten an Bord der deutschen Schiffe systematisch befragt? Wie läuft das ab?

An Bord deutscher Schiffe ist die Befragung freiwillig. Soldaten der Feldnachrichtenkräfte führen die Gespräche. Ihrem Einsatzkonzept nach operieren diese Soldaten an Land in einem Umfeld, wo sie langfristig Kontakt zu Auskunftspersonen halten sollen. Das ist hier unmöglich, weil wir die Menschen nur so kurze Zeit an Bord haben. Umso wichtiger ist es, dass sie in der Gesprächsführung einfühlsam vorgehen und sich schnell auf ihr Gegenüber einstellen – und das gelingt ihnen sehr gut.

Was weiß die EU heute über die Schleuserbanden, was sie vor Beginn des Einsatzes nicht wusste?

Wir verifizieren Informationen, zum Beispiel über Sammelpunkte, Routen, oder die Strukturen, in denen die Netzwerke arbeiten. Mithilfe der Beiträge, die die Schiffe, Hubschrauber und Flugzeuge liefern, kann auf der Ebene des Operationshauptquartiers eine Bewertung vorgenommen werden über die mafiösen Strukturen, die sich in diesem kriminellen Geschäft etabliert haben, deren Vorgehen und Verbindungen.

Zurück zur Seenotrettung: Wie läuft so ein Einsatz ab?

Die Seenotleitstelle in Rom leitet sämtliche Einsätze zur Seenotrettung. Das Seegebiet ist etwa so groß wie Deutschland, und eine effektive Seenotrettung kann nur durch eine Leitstelle geleistet werden, die die Schiffe in diesem Einsatzgebiet koordinieren kann.

Und was passiert dann an der Unglücksstelle?

Wir nähern uns zunächst mit Speedbooten dem Havaristen und erklären den Menschen, wie die Rettung ablaufen wird. Dafür haben wir immer einen Übersetzer an Bord, der den ersten Kontakt herstellt und die Menschen beruhigt, die in diesen völlig überfüllten und seeuntüchtigen Kähnen und Schlauchbooten stehen oder sitzen. Anschließend werden sie in kleinen Gruppen zu uns an Bord gebracht. Zunächst Verletzte und Kranke, dann Kinder und Frauen und zum Schluss die Männer. An Bord werden sie auf gefährliche Gegenstände durchsucht, erhalten eine medizinische Untersuchung, werden registriert, bekommen zu essen und zu trinken und können sich waschen.

Fregattenkapitän Marc Metzger ist Führer des deutschen Einsatzkontingents im Mittelmeer. Der 42-Jährige trat 1993 in die Bundeswehr ein. Im April dieses Jahres wurde er zum Kommandanten der
Fregattenkapitän Marc Metzger ist Führer des deutschen Einsatzkontingents im Mittelmeer. Der 42-Jährige trat 1993 in die Bundeswehr ein. Im April dieses Jahres wurde er zum Kommandanten der „Schleswig-Holstein“ ernannt. Die Fregatte wurde für die U-Boot-Jagd konzipiert, kann aber auch Luft- und andere Seeziele bekämpfen.
Foto: dpa

Auf Fotos sind die Soldaten oft in orangen oder weißen Schutzanzügen zu sehen. Müssen sich die Flüchtlinge nicht wie Aussätzige behandelt fühlen, wenn sie so in Empfang genommen werden?

Bei der Aufnahme von Schiffbrüchigen können wir nicht wissen, mit welchen Krankheiten unsere Soldaten möglicherweise konfrontiert sind. Der Schutz meiner Soldaten ist zwingend erforderlich, denn wenn ich sie einem Risiko aussetze, gefährde ich im Prinzip den Auftrag. Ob der Vollschutz tatsächlich notwendig ist, prüfen und bewerten wir während eines Einsatzes immer.

Kritiker der Seenotrettung warnen davor, dass sich islamistische Terroristen unter die Flüchtlinge mischen könnten.

Die Gefahr eines Terroristen können Sie nirgends sicher ausschließen. Ich sehe das auch nicht als Kritik an der Seenotrettung, sondern als Hinweis. Aufgrund der Entwicklungen in Libyen mit der Expansion terroristischer Gruppierungen und Machtkämpfen zwischen Milizen kann man nie ausschließen, dass Kriminelle oder Terroristen versuchen, sich unter die Menschen zu mischen. Deshalb ist es auch notwendig, Soldaten zur Sicherung derjenigen Kameraden einzusetzen, die beispielsweise mit ihrem Speedboot an ein Flüchtlingsboot herangehen. Die Soldaten arbeiten dabei auch mit Schutzwesten und Bewaffnung.

Haben die Erlebnisse der vergangenen Wochen Ihren Blick auf die Migrationsproblematik verändert?

Dadurch, dass man hautnah miterlebt, was die Geretteten über ihre Flucht berichten, erlebt man die Migrationsproblematik natürlich viel intensiver. Die physische und psychische Belastung ist, verglichen mit anderen Einsätzen, in denen ich gedient habe, durchaus hoch. Das Retten eines Menschenlebens ist aber wohl eine der besten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann, unabhängig davon, ob er als Soldat in einem Einsatz handelt oder Zivilperson ist. Die Geburt eines Mädchens am 24. August an Bord meines Schiffes gehört bestimmt zu den außergewöhnlichsten Erlebnissen, die ich aus diesem Einsatz mitnehme.

Wie viele Menschen haben Sie und Ihre Kameraden bereits an Bord der beiden deutschen Schiffe geholt und in Sicherheit gebracht?

Seit Anfang Mai haben Schiffe der Bundeswehr insgesamt 7263 Menschen aus Seenot gerettet. Darunter waren 5522 Männer, 1265 Frauen und 476 Kinder.

Kamen Sie schon einmal zu spät?

Glücklicherweise sind wir bei allen unseren Einsätzen immer rechtzeitig gekommen. Es kam vor allem auch zu keinem Unfall. Auf den überladenen Booten, in denen die Menschen in den unteren Decks zusammengepfercht sind, kann es nämlich schnell zu einem Unglück kommen, wenn die Menschen in Panik geraten, das Boot Schlagseite erhält und dann kentert. Deshalb fahren wir nie nur von einer Seite an die Boote heran, damit die Menschen sich nicht nach einer Seite lehnen. In einem Fall mussten wir allerdings zwei Leichen übernehmen, die die italienische Küstenwache geborgen hatte und die wir ans italienische Festland gebracht haben.

Die Fragen stellte Ansgar Haase