Omaha Beach

D-Day 1944: Hinter den Landungsklappen lauerte der Tod

Am 6. Juni 1944 kommt es in "Omaha Beach" zu den schwersten Kämpfen der Invasion. Harold Baumgarten ist in der ersten Angriffswelle. Foto: dpa
Am 6. Juni 1944 kommt es in "Omaha Beach" zu den schwersten Kämpfen der Invasion. Harold Baumgarten ist in der ersten Angriffswelle. Foto: dpa

Der D-Day beginnt grau, windig, kalt. Die Füße sind steif nach der dreistündigen Fahrt in dem kleinen Boot. Wenn Harold Baumgarten erzählt, ist es immer 6.40 Uhr morgens, es ist der 6. Juni 1944, und Baumgarten, ein Jugendlicher aus New York, landet mit der ersten Angriffswelle in Omaha Beach. Mit der Selbstmordwelle, wie er sie nennt. Sie sind ausgelaugt, müssen mit ihren Helmen pausenlos Wasser aus dem Boot schöpfen – und das Erbrochene von Seekranken.

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Von unserem USA-Korrespondenten Frank Herrmann

Vor ihnen ist ein Boot auf eine Mine gelaufen, Holzplanken und Körperteile fliegen durch die Luft, es regnet Blut. Die drei jungen britischen Matrosen, die das Landungsboot steuern, packt die Angst. Sie wagen sich jetzt nicht dichter an den Strand heran. Die Klappe lassen sie so früh herunter, dass Baumgarten, knapp 1,80 Meter groß, bis zum Hals im Wasser steht. Der Mann, der direkt vor ihm über die Rampe gerannt ist, Clarius Riggs aus Pennsylvania, ist tot, noch bevor er das Wasser erreicht. Andere ertrinken, weil die schweren, nassen Uniformjacken sie wie Zentnergewichte zu Boden ziehen. Es riecht nach versengtem Fleisch. Soldaten mit Flammenwerfern verbrennen bei lebendigem Leib, als die Treibstoffkanister, die sie auf dem Rücken tragen, von Kugeln getroffen werden und explodieren. Baumgarten hat Glück, zunächst bekommt nur sein Helm einen Kratzer ab.

Ungefähr ahnte er, was ihn erwartete. Drüben in England, wo seine Einheit wochenlang für die Invasion übte, hatten sie Modelle und Luftbilder studiert. In „Omaha Beach“, wussten sie, glich der deutsche Atlantikwall einer Festung. Am Ufer, nur bei Ebbe sichtbar, Landminen und dazu Spanische Reiter – Stahlkreuze, die Panzer aufhalten sollten. Überall Stacheldraht. In den Klippen die Bunker mit den gefürchteten Maschinengewehren. „Ich hatte mich abgefunden mit dem Gedanken, dass ich in ,Omaha Beach' sterben würde“, sagt Baumgarten. Seiner Schwester Ethel schreibt er aus England, sie solle das Telegramm mit der Todesnachricht abfangen und es den Eltern möglichst schonend beibringen.

Irgendwann erreicht Baumgarten die Spanischen Reiter. Das Gewehr vibriert in seinen Händen. Schüsse hatten das Magazin getroffen, „es hat mein Leben gerettet“. Er wirft sich zu Boden und sieht, wie der 19-jährige Robert Dittmar auf eines der Stahlkreuze zustolpert und durch die Luft geschleudert wird. „Es hat mich erwischt, Mutter“, schreit er, dann verstummt er. „Dann taumelte mein Sergeant heran, Clarence Roberson, ohne Helm, auf seiner Stirn ein klaffendes Loch, das blonde Haar blutverschmiert.“ Er kommt noch bis zu einer Betonmauer am Strand, kniet nieder und beginnt zu beten, einen Rosenkranz in den Händen. Die Salve eines Maschinengewehrs zerreißt ihn buchstäblich in zwei Teile. „So etwas sollte eigentlich kein 19-Jähriger sehen“, sagt Baumgarten. „Es war die Hölle.“ Dann detoniert im Sand eine Granate, deren Splitter ihm ein Stück der Wange wegreißen und seinen Kiefer links oben zerschmettern. Neben ihm liegt auch Robert Garbett, sein bester Freund, mit dem Gesicht nach unten im seichten Wasser. Es ist, so schildert er das Inferno, „als hätten die Wellen die Reste eines Schiffswracks angespült, wären da nicht all die Leichen, all die Waffen gewesen“. Als Steven Spielberg den Film „Der Soldat James Ryan“ dreht, beruht vieles auf der Schlacht an ihrem Strandabschnitt, „Omaha Beach“, Sektor Dog Green.

Baumgarten trägt eine Tarnjacke, auf deren Rückseite er einen Davidstern malt, dazu die Worte Bronx, New York. Baumgarten ist Jude, er stammt aus der Bronx, an der High School dort hat er das Fußballspielen gelernt von jüdischen Mitschülern, deren Familien aus Europa fliehen mussten. Das mit dem Davidstern, sagt er, sei eine Trotzhandlung gewesen. „Ich hatte im Kino gesehen, wie die Deutschen die Juden zwangen, den Stern zu tragen. Ich dachte mir, du trägst diesen Stern auf dem Rücken, das ist deine Antwort.“ Viel läuft nicht nach Plan am D-Day. Die Kanonen des Schlachtschiffs „Texas“, die die deutschen Stellungen ins Visier nehmen sollen, feuern weit über die Klippen hinweg, ohne den Bunkern Schaden zuzufügen. Von den 16 Schwimmpanzern, die Baumgartens Trupp zugeteilt sind, versinken 14 bei hohen Wellen im Meer, nur zwei erreichen den Strand, wo einer sofort zerstört wird. Nachmittags gegen fünf – die Hänge hinauf zum Dorf Vierville-sur-Mer sind inzwischen gestürmt – robbt Baumgarten neben einer Landstraße auf eine Hecke zu, als ein stechender Schmerz durch seinen Körper zuckt. Er ist auf eine Mine getreten, aus der sich eine Kugel löste und den Fuß durchbohrte.

In der Nacht kommen sie erneut unter Beschuss, Baumgarten wird zum fünften Mal verwundet, spritzt sich Morphium, um die Schmerzen zu betäuben, und nickt ein. Im Halbschlaf spürt er eine Hand auf seiner Schulter und hört gebrochenes Englisch: „Keine Sorge, Yankee. Alles wird gut.“ Eine deutsche Patrouille, erfährt er Jahre später, durchsucht die Uniformen toter Amerikaner nach Zigaretten, entdeckt dabei, dass einer noch lebt – und spricht ihm Trost zu.

In derselben Nacht lesen ihn die Rettungssanitäter auf, nachdem er im Mondlicht die Umrisse eines Krankenwagens ausgemacht und durch verzweifelte Schüsse auf sich aufmerksam gemacht hat. Im August, nach gut zwei Monaten in britischen Lazaretten, ist Baumgarten zurück in der Bronx. Am 14. Februar 1945 sitzt er im Hörsaal der New York University, um sein Studium fortzusetzen, Biologie und Chemie. Jahre später wird er zusätzlich Medizin studieren.

Wie er den Horror verarbeitet hat? „Du hast es runtergeschluckt“, antwortet Baumgarten. „Ich wollte ja zurück ans College, und schon deshalb hab' ich den Ärzten nie von Albträumen erzählt. Ich bin drüber hinweggekommen.“ Seit 40 Jahren lebt er in Jacksonville in Florida, wo er sich als Arzt niederließ und medizinischer Direktor eines Versicherungskonzerns wurde. 1988 kehrt er erstmals in die Normandie zurück. Vorher konnte er über den D-Day einfach nicht reden, nicht mal mit Rita, seiner Frau. Sobald er es versucht, ersticken Tränen seine Sätze. Das ändert sich, als er am 40. Jahrestag der Invasion auf einem Gefallenen-Friedhof über „Omaha Beach“ steht. „Ich blickte über die Gräber und sagte zu Rita: Niemand wird je erfahren, was das für Menschen waren, wenn ich nicht ihr Sprecher werde.“