Big Data – Technik überholt die Utopien

Big Data
Big Data Foto: Svenja Wolf

Das Internet hat seine Unschuld verloren. Noch vor wenigen Jahren als Paradies der Meinungsfreiheit gepriesen, der wahren und direkten Demokratie, der grenzenlosen Information… Heute sind die Schattenseiten unübersehbar: Weltumspannender Lauschangriff, manipulierte Meinungsmache, suchtähnliche Abhängigkeit. Drei Autoren haben in ihren packenden Thrillern die nahe Zukunft ausgemalt. Unser Redakteur Jochen Magnus stellt sie der Wirklichkeit gegenüber.

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Als in den 1840er-Jahren Augusta Ada Byron King, Gräfin Lovelace, als Ada Lovelace bekannt, das erste Computerprogramm schrieb, gab es noch lange keinen Computer, auf dem es hätte laufen können. Es dauerte ziemlich genau 100 Jahre, bis Konrad Zuse den ersten funktionsfähigen Apparat baute.

35 Jahre später zogen die Computer zu Hause ein und hießen nun „persönlich“. Weitere drei Jahrzehnte später passten sie schon in eine Hosentasche und heute sogar in Armbanduhren und Brillen. Aber von Zuses zimmergroßer elektromechanischer „Z3“-Maschine über Apple I, C 64 und IBM PC bis zum iPhone funktionieren alle diese Computer nach dem gleichen Prinzip: Sie arbeiten Schritt für Schritt die Instruktionen ihrer Programmierer ab. Das funktioniert mit heutiger Hardware ungeheuer schnell, aber es geht noch sehr viel besser…

Schon seit Zuses Zeiten versuchen Informatiker, eine effizientere Alternative zu finden. Die schauen sie sich bei der Natur ab, bei der Funktionsweise von Nerven und Gehirn. Nachdem man sich in den 50er- und 60er-Jahren schon am Ziel wähnte und in der Science Fiction sprechende Computer mit künstlicher Intelligenz Hauptrollen übernahmen, wurde es lange still um diese Forschungsrichtung. Erst Ende der 80er-Jahre nahm sie wieder Fahrt auf, die Theorien waren weiter entwickelt worden, und zunehmend stand auch die notwendige Rechenpower zur Verfügung.

Das Gehirn als Vorbild

Heute forschen Apple, Google und Facebook an der praktischen Verwendbarkeit und geben Hunderte Millionen Dollar dafür aus. Mit dem Projekt „Google Brain“ versucht der Konzern, die Neuronenverbindungen des menschlichen Gehirns nachzuahmen. 1000 Computer und 16 mal so viele Prozessoren arbeiten dafür – und das trägt Früchte: Mit den Erkenntnissen aus „Brain“ wurde bereits die Spracherkennung von Android-Systemen verbessert. Auch Apple's Helferlein „Siri“ wird wohl bald auf einem solchen neuronalen Netz arbeiten und noch viel mehr Antworten geben können als heute. Am weitesten aber scheint Facebook zu sein: „DeepFace“, ein neuronales Netz aus 120 Millionen Verknüpfungen, kann Gesichter ebenso gut erkennen wie ein Mensch. Das Geniale daran: Aus dem Foto wird ein 3D-Modell des Gesichts gerechnet, in die Frontalansicht gedreht und dann in 2D zurückgerechnet. Damit wird es möglich sein, Menschen auch in einer großen Menge automatisch zu identifizieren.

Ein künstliches Nervensystem mit einem gigantischen Gedächtnis

Verknüpft man solche künstliche Nervensysteme mit einem Gedächtnis, mit „Big Data“, der Sammlung gigantischer Datenmengen, so wird aus Science Fiction Realität: Lässt man diese neuen Methoden der Mustererkennung zum Beispiel auf die Bilder von einer Milliarde vernetzter Kameras los, die heute in Smartphones auf dem ganzen Globus unterwegs sind, dann ist das schnelle Aufspüren einer beliebigen Person, die sich in der Öffentlichkeit bewegt, keine Utopie mehr. Entsprechende Szenen aus den Romanen Zero und Circle könnten sich in der Wirklichkeit abspielen. Datenbrillen, die ständig Bilder in die Datenwolke, die Cloud, senden, machen das Überwachungsszenario perfekt.

Auch Drohnen profitieren von der zunehmenden Intelligenz der Netze. Die Versuche mit Zustelldrohnen von Google und Amazon zeigen, wie nah diese Technik schon an den Alltag gerückt ist und wie wichtig ihre Automatisierung ist. Bestückt man die Drohnen mit Kameras, so sind wir schon in Tom Hillenbrands „Drohnenland“ angekommen – und zwar nicht erst in einigen Jahrzehnten, sondern in nur einem Jahrzehnt.

Das „Internet der Dinge“

Riesige Datenmengen fallen nicht nur durch Ton und Bildübertragungen an. Im „Internet der Dinge“ sind in alltäglichen Gebrauchsgegenständen kleine Computer eingebettet – und natürlich miteinander vernetzt. Der darauf spezialisierte Marketingexperte Wolfgang Steinert sieht das so: „Künftig kommuniziert wahrscheinlich eine Matratze, die eine digitale Waage in sich trägt, morgens mit dem Kühlschrank, woraufhin der Kühlschrank Essensvorschläge gemäß dem Fitnessplan macht.“ Und die Heizung weiß anhand von GPS-Daten, dass ihr Besitzer das Haus verlässt und regelt sich herunter. Man benötigt kaum Fantasie, um die mögliche Kehrseite zu erahnen: Totalüberwachung aller Lebensfunktionen, Sabotagemöglichkeiten bis zum „Blackout“, den der Autor von „Zero“ im so benannten Vorgängerroman eindrucksvoll beschrieben hat. Angesichts ständiger Datenpannen und hunderter Millionen geklauter Zugangsdatensätze darf, nein, muss man fragen, wer den Hackern ernsthaft noch mehr Daten zum Fraß vorwerfen will.

Die Vermessung des Körpers

Das gilt auch für die „Wearables“, am Arm zu tragende Computer wie die Apple Watch oder in die Kleidung eingenähte Geräte. Sie überwachen Vitalfunktionen und melden sie in die Cloud, damit die „SelfTracker“, die Selbstüberwacher, sie hinterher auswerten können. Wann werden die ersten Krankenversicherungen das zunächst empfehlen, dann rabattieren und schließlich die Nichtüberwachten diskriminieren? Wann werden Geheimdienste diese Geräte auswerten, die man zum Beispiel als Lügendetektor missbrauchen kann, wie in „Zero“ beschrieben wird.
Für sich genommen, sind viele der aufgezählten Möglichkeiten meist nützlich und harmlos. Doch wenn man die Daten sammelt, zusammenfügt und mit den neuen, effektiven Methoden automatisch auswertet, dann sind wir in „1984“ angekommen. Zwar 30 Jahre verspätet, aber dafür mit viel subtileren Methoden.

Widerstand ist sinnvoll

Für jene, die heute schon freiwillig ihre Privatheit in Facebook oder im einschlägigen Reality-TV abgeben, ist das bestimmt kein Problem. Aber niemand sollte durch mehr oder weniger sanften Druck zum Mitmachen beim großen Datenverschleudern gezwungen werden. Widerstand ist sinnvoll!