Baltikum: Die neue Angst vor Russland

Ein junger Mann der lettischen Nationalgarde im Übungseinsatz. Die baltischen Staaten rüsten zurzeit auf, hoffen aber im Ernstfall auf die Nato.
Ein junger Mann der lettischen Nationalgarde im Übungseinsatz. Die baltischen Staaten rüsten zurzeit auf, hoffen aber im Ernstfall auf die Nato. Foto: picture alliance

Eine deutsche Diplomatin wird in diesen Tagen in Riga immer wieder gefragt, warum sie eigentlich noch hier ist. Sie könnte sich doch in Sicherheit bringen mit ihren Kindern und zurückgehen ins lauschige Deutschland. In den kleinen baltischen Staaten am Rande der EU sind die Bürger seit der Krim-Annexion durch Russland und die Propaganda aus dem großen Nachbarstaat tief verunsichert.

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Von unserer Redakteurin Rena Lehmann

Das Trauma der sowjetischen Besatzung, die im Zweiten Weltkrieg begann und erst Anfang der 90er-Jahre endete, wirkt in Estland, Lettland und Litauen nach. Während viele Bürger für den Fall der Fälle heute lieber stets ein gut betanktes Auto in ihrer Nähe stehen haben, hoffen ihre Politiker auf eine dauerhaft wirksame Abschreckung Russlands durch die Nato.

Die kleinen Länder wurden in den vergangenen Jahrhunderten mehrfach zum Spielball mächtigerer Staaten, und das haben sie nicht vergessen. „Aber manchmal vergessen die Deutschen, dass wir überhaupt existieren“, sagt der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves vorwurfsvoll. Aus seiner Sicht ist das europäische Sicherheitsverständnis herausgefordert, „wenn nicht sogar völlig umgeworfen worden“ durch den Regelbruch des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Ukraine.

Es sind mahnende Worte an die anderen Europäer, die man hier in Estland hört. „Wir müssen vorbereitet sein“, sagt der Präsident. Das neue Gebaren Russlands sei „ernsthaft aggressiv“. Den Artikel 5 der Nato-Verträge, den sogenannten Bündnisfall, wonach alle anderen zu Hilfe eilen, wenn ein Mitglied angegriffen wird, kann hier an den Außengrenzen des Militärbündnisses jeder zitieren. Die Balten beruhigt im Augenblick nur ein Gedanke: „Wenn dieser Bündnisfall ein einziges Mal nicht greift, dann wäre die Nato am Ende. Das wird niemand wollen“, sagt der Präsident. Artikel 5 ist die Überlebensversicherung für sein Land.

Man beobachtet sich gegenseitig

Militär ist anders als in anderen Ländern mitten in Europa hier allerorten gern gesehen. Die eigene Kraft ist begrenzt. Estland hat 3000 Berufssoldaten und 3000 Wehrpflichtige, auch Lettland und Litauen verfügen über überschaubare Streitkräfte. Es beruhigt die Nerven der Balten, wenn sie ab und zu ein Militärfahrzeug eines Nato-Partners oder gar einen US-Soldaten zu Gesicht bekommen. Wirklich aktiv ist die Nato aber eher unsichtbar. Etwa eine Stunde fährt man durch dünn besiedelte Landschaften Estlands, um zur weiträumig abgesperrten Nato-Luftbasis Ämari zu gelangen. Oberstleutnant Ülar Lohmus führt angemeldete Besucher durch die weitläufige Anlage.

Hier arbeiten nicht viele Menschen, aber es könnten im Ernstfall schnell viele werden. Ein Zustand des „wir könnten, wenn wir wollten“ wird hier aufrechterhalten. Es könnten bis zu 800 Soldaten hier verpflegt werden, es könnten mehrere Hundert Tonnen Treibstoff für Flugzeuge gelagert werden. Zurzeit betreiben mehrere Nato-Länder hier vor allem „Air Policing“, die Überwachung des Luftraums. Oberstleutnant Lohmus sagt: „Wir sind eine taktische Einheit mit strategischer Wirkung. Immer wenn wir hier etwas machen, sind die Nachbarn im Osten sehr besorgt.“ Vier Eurofighter werden hier von sieben Nato-Staaten in ständiger Bereitschaft gehalten, auch Deutschland ist beteiligt. Die jeweiligen Länder bleiben für vier Monate mit mehr als 100 Soldaten und Ausrüstung vor Ort, dann wird gewechselt.

Russische Flieger sind den Angaben der Soldaten zufolge regelmäßig zwischen St. Petersburg und Kaliningrad unterwegs. Sie fliegen über die Ostsee, das ist erlaubt. „Aber manchmal verletzen sie unseren Luftraum“, sagt Lohmus. Wenn die Russen fliegen, fliegen die Nato-Flieger von Ämari auch. Man zeigt sich einander am Himmel, identifiziert einander. Ein Soldat der spanischen Armee sagt: „Manchmal fotografieren wir uns.“

Aber wie ernst ist die Bedrohungslage wirklich? Unter den verschiedenen Stimmen, die man dazu im Baltikum heute hört, sind die Soldaten am Nato-Stützpunkt noch sehr gelassen. „Die Russen legen es nicht auf einen Konflikt an. Aber sie testen unsere Fähigkeiten“, meint Francisco Elias Entrialgo. Auch viele Politiker glauben nicht, dass die schlimmsten Befürchtungen vor allem der älteren Bevölkerung wahr werden und Putin ernsthaft danach trachtet, die baltischen Staaten anzugreifen. Aber die Krise der EU mit Russland verunsichert das Land noch aus anderen Gründen. Die baltischen Staaten waren von der Finanzkrise 2008 besonders schwer getroffen. Eben erst hatten sie sich nach schmerzhaften Reformen und einem harten Sparprogramm davon erholt. Jetzt fürchten manche, dass die Krise und ihre Nähe zu Russland ihnen zum Nachteil wird. „Warum musste die Ukraine-Krise gerade jetzt kommen, wo bei uns so vieles angestoßen wurde und so gut läuft?“, fragen viele.

„Wir müssen Russland schon klarmachen, dass es mit seinem Verhalten nicht einfach durchkommt. Es verhält sich ernsthaft aggressiv.“ Estlands Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves.
„Wir müssen Russland schon klarmachen, dass es mit seinem Verhalten nicht einfach durchkommt. Es verhält sich ernsthaft aggressiv.“ Estlands Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves.
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Der gerade wiedergewählte, erst 35-jährige Ministerpräsident Estlands, Taavi Roivas, wollte in den nächsten Jahren wirtschaftlich zu Finnland aufschließen. „Ich bin sicher, dass wir das schaffen können“, sagt er. Dazu müsste Estland aber attraktiv sein für ausländische Investoren. Er preist sein Land als klein, modern und beweglich an. Er sagt: „Wir sind klein, deshalb müssen wir die Dinge schnell anpacken.“

Staatspräsident Ilves glaubt dagegen, dass die Region Hilfe von der EU braucht. Ilves drängt darauf, dass die EU die Region stärker wirtschaftlich fördert. „Innerhalb der EU sind wir noch immer arm, obwohl wir die am wenigsten korrupte frühere Sowjetrepublik sind.“ Zwischen den Zeilen hört man bei vielen Politikern, die grundsätzlich Optimismus in ihren jungen Ländern verbreiten wollen, viel Sorge heraus. Das überzeugendste Argument gegen Russlands Propaganda erscheint ihnen der wirtschaftliche Aufschwung und Wohlstand für möglichst viele Menschen im Baltikum. Abseits der in den vergangenen Jahren prachtvoll herausgeputzten Hauptstädte leben viele Menschen in Armut.

Das Durchschnittseinkommen liegt in allen drei Staaten bei etwa 1000 Euro. Die Preise für Lebensmittel und Kleider liegen aber kaum unter denen in Deutschland. Als fragil und krisenanfällig gelten die Länder auch, weil in allen drei Staaten große russischsprachige Minderheiten leben, die teils als empfänglich für die Propaganda der russischen Medien gelten. „Wer regelmäßig russische Medien sieht, bekommt eine Gehirnwäsche und ein völlig anderes Weltbild“, sagt eine junge Frau in Litauen, die beide Sprachen beherrscht.

Besonders viele russischsprachige Balten sind aber in Lettland und Estland zu Hause. Von den knapp zwei Millionen Bewohnern Lettlands gehören mehr als ein Viertel der russischsprachigen Minderheit an. Ein Kuriosum, das die schwierige Geschichte der jungen Länder aufzeigt: Viele von ihnen haben keine Staatsangehörigkeit und dürfen in Lettland nicht wählen. Auf beiden Seiten gibt es Befindlichkeiten: Die russischsprachigen Letten sind gekränkt, dass sie für die Staatsangehörigkeit erst eine Art Einbürgerungstest machen müssen und nicht selbstverständlich dazugehören. Die lettischsprachigen Letten wollen aber die Staatsbürgerschaft an Bedingungen knüpfen. Manche Politiker – in Estland gehört kein einziges Kabinettsmitglied der russischen Minderheit an – müssen nun erkennen, dass sie zu lange zu wenig für den Zusammenhalt im eigenen Land getan haben. Offen einräumen tun das nur wenige.

Allmählich aber hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man der russischen Propaganda, die die EU als ständige Bedrohung und Provokateur Russlands darstellt, etwas entgegensetzen muss. Gegenpropaganda soll es nicht sein, dafür Nachrichten nach journalistischen Grundsätzen.

Die Krise als Chance?

Darja Saar ist 34 Jahre alt und Chefredakteurin des ersten russischsprachigen Fernsehsenders, der im September in Estland auf Sendung gehen soll. Aus ihrer Sicht ist ein solcher Sender lange überfällig. „Wir wollen unsere Gesellschaft stärken. Die meisten Russen wollen einfach ein ganz normaler Teil dieser Gesellschaft sein.“ Die russischsprachige Minderheit ist aus ihrer Sicht, sie selbst stammt aus Kasachstan, bisher im estnischen Fernsehen aber nicht vorgekommen. Darja Saar kann dem schwelenden Konflikt mit Russland inzwischen sogar etwas Positives abgewinnen. „Es ist vielleicht eine zweite Chance für die estnische Gesellschaft“, meint sie. Die Krise hätte allen Esten dabei geholfen zu verstehen, dass sie etwas tun müssen für den Zusammenhalt in ihrer Gesellschaft. Der Sender soll ein erster Schritt zur Normalität mit den russischsprachigen Esten sein. Die müssten dann nur noch einschalten.