Auswanderer: Vom Westerwald zum amerikanischen Traum

Eine amerikanische Familie aus dem Westerwald (von rechts): Dieter und Sieglinde Hahn, Stefan Hahn und seine Freundin Samantha, Susanne Hahn und ihr Mann Matt mit Sohn Dean sowie Nesthäkchen Sabine Hahn.
Eine amerikanische Familie aus dem Westerwald (von rechts): Dieter und Sieglinde Hahn, Stefan Hahn und seine Freundin Samantha, Susanne Hahn und ihr Mann Matt mit Sohn Dean sowie Nesthäkchen Sabine Hahn. Foto: Denise Remmele

Montabaur/Columbus – Als Dieter Hahn im Januar 1997 mit seinen drei Kindern und seiner Ehefrau am Flughafen Chicago amerikanischen Boden betritt, geschieht Unglaubliches. Ihr schwedischer Hütehund, gerade aus der Quarantäne entlassen, macht sich aus dem Staub. Die Familie jagt ihn durch den gesamten Flughafen.

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Kein Zollbeamter, niemand vom Sicherheitspersonal hält die Deutschen auf. „Keiner wollte später noch unsere Pässe sehen“, sagt der 58-Jährige. Wenn Dieter Hahn heute davon erzählt, kann er es gar nicht glauben. In Zeiten der Bostoner Attentate und der Terrorangst nach dem 11. September wären solche Jagdszenen heute wohl undenkbar, meint er und nimmt einen Schluck Kaffee in einem Montabaurer Café.

Für fünf Jahre wollten sie damals in die USA gehen. Seine Firma, das Westerwälder Unternehmen KCH Keramchemie, schickte ihn als Vertriebsleiter nach Ohio. Heute lebt die Familie immer noch an den Großen Seen – Eltern und Kinder sind längst US-Bürger. Dieter Hahn ist mittlerweile selbstständiger Unternehmensberater. Dass es so weit kommt, daran hat Hund Bilbo einen großen Anteil.

Vielleicht haben die Hahns es geahnt, als sie dem Tier hinterherjagten. Wenige Wochen nach ihrer Ankunft fragt Dieter und Sieglinde Hahns siebenjährige Tochter Sabine: „Sind die fünf Jahre jetzt rum?“ Es ist kalt in diesem Januar, 20 Grad minus. Alle Nachbarn im 3000-Einwohner-Ort Lexington nahe Ohios Hauptstadt Columbus verkriechen sich in ihren Häusern und Autos. Während der Vater bei der Arbeit ist, fühlen sich seine Frau Sieglinde und die drei Kinder Susanne (damals 14), Stefan (11) und Sabine (7) einsam.

„Es war der größte Fehler, in dieser kalten Jahreszeit in die USA zu reisen“, sagt der Montabaurer heute. „Ohne den Hund wäre es eine Katastrophe gewesen. Die Kinder haben damals mit dem Hund gesprochen. Bilbo konnten sie alle ihre Sorgen beichten. Denn der Hund gab keine Widerworte.“ Erst als Wochen später die ersten Sonnenstrahlen den Ort an den Großen Seen erhellen, beginnen auch die Kinder, das amerikanische Abenteuer zu lieben.

„Frau happy, ich happy“

Firmen, die häufig Menschen wie Dieter Hahn in die USA und andere Länder als Expats (Entsandte) schicken, wissen, dass der Erfolg des Unternehmens in fast allen Fällen vom Wohlergehen der Familie abhängt. „Frau happy, ich happy“, drückt Dieter Hahn es aus. Und so dreht sich auch bei der Familie aus Montabaur vor ihrer Ausreise in die USA alles um die Zukunft der Kinder jenseits des Atlantiks.

Ein ganzer Umzugscontainer besteht nur aus Kinderspielzeug, erzählt Dieter Hahn. Und sechs Monate vor der Fahrt ins Ungewisse, im Juli 1996, fährt Mutter Sieglinde mit ihren Kindern in den Sprachurlaub nach Irland. Im Oktober nimmt sich das Ehepaar zusammen mit der ältesten Tochter Susanne genau drei Tage Zeit, um ein Haus zu kaufen und eine Schule zu finden.

Fünf Häuser schauen sie sich an. Wichtigstes Auswahlkriterium: Gibt es in den Gärten der Nachbarn Kinderspielgeräte? Gibt es dort also Anschluss, mögliche Spielkameraden für die Kinder? Die Schule soll nah gelegen sein und Kindergarten, Grundschule sowie High School beherbergen, damit die Kinder nicht getrennt werden. Pragmatisch, tatkräftig, optimistisch – die Hahns sind schon amerikanisch, bevor ihr Leben in den USA überhaupt beginnt.

Heute sagt Dieter Hahn: „Wir sind selbstbewusster geworden, offener, toleranter. Wir nehmen die Challenge, die Herausforderung, an. Wir probieren vieles einfach mal aus.“ 1996 wählen sie die Schule, die Tochter Susanne die Soldatenschule nennt, weil alle Kinder Uniformen tragen müssen. Den Kindern der Hahns macht es wenig aus. Überhaupt lernen sie schnell. Als sie in die USA kommen, sprechen sie kaum ein Wort Englisch.

„Drei Monate später hat meine Frau die eigenen Kinder nicht mehr verstanden. Bis heute sprechen sie untereinander nur Englisch. Dann drehen sie sich zu uns um und unterhalten sich mit uns auf akzentfreiem Deutsch“, sagt Dieter Hahn. Seine Frau Sieglinde tut das, was für ihren Mann die Grundregel deutscher Amerika-Auswanderer sein sollte: Sie mischt sich unter die Leute, obwohl sie damals kaum ein Wort Englisch spricht.

Soziales Engagement gehört in den USA zum guten Ton. Sieglinde Hahn spielt im örtlichen Verein Tennis und übernimmt ehrenamtliche Aufgaben in der Schule. Und die Hahns meiden die vielen deutschen Klubs in der Umgebung: „Das haben wir bewusst getan. Wir wollten ja nicht in eine deutsche Kolonie reisen, sondern wie Amerikaner leben“, sagt der Westerwälder. Heute sehen die Hahns dies entspannter, besuchen auch mal Veranstaltungen deutscher Klubs.

Vor fünf Jahren haben sie sogar ein privates Oktoberfest mit 100 Musikern aus Siershahn organisiert. Doch eigentlich sind die Hahns längst eine amerikanische Familie. Sie fahren mit einem amerikanischen Führerschein und reisen mit einem amerikanischen Pass, wobei sie ihren deutschen behalten haben.

Ausgerechnet im Jahr des Terrors, im Jahr 2001, beantragt die Familie US-Pässe. Ein Jahr später wäre die fünf Jahre gültige Green Card ausgelaufen.

Behörden bereiten Probleme

Während seine Familie bereits Anfang 2002 Pässe bekommt, muss Dieter Hahn ein halbes Jahr länger warten. Nicht weil er durch die verschärften Antiterrorgesetze Probleme bekommen hätte. Es sind die deutschen Behörden, die ihm Probleme bereiten, weil er seinen deutschen Pass behalten will. Dafür muss er aber nachweisen, dass er noch soziale Bindungen in die Heimat hat. Also beantragt er ein Führungszeugnis, belegt, dass er noch ein Haus in Montabaur hat, und legt sogar noch ein Schreiben des Bürgermeisters dazu.

Bis heute sind die Auswanderer tief im Westerwald verwurzelt. Mehrere Male im Jahr reisen sie nach Montabaur. Besonders die Kirmes hat es den Kindern angetan. „Die finden sie ganz toll. Da dürfen sie Bier trinken und abends in die Disco gehen. Diese Freiheiten kennen sie in den USA nicht.“ Bis heute verfolgen Dieter und Sieglinde Hahn das Geschehen in ihrer alten Heimat in der Rhein-Zeitung, die sie weiter abonniert haben.

Doch die Hahns wollen nicht zurück. Das hat auch etwas damit zu tun, dass ihre Kinder in den USA glücklich sind. Susanne hat 2010 geheiratet – einen Kandier. Ihr Sohn Dean hat jetzt drei Pässe: einen deutschen, einen amerikanischen und einen kanadischen. Kinder happy, Eltern happy. Doch auch Dieter und Sieglinde Hahn sind tief beeindruckt von ihrer neuen Heimat. Als sie 1997 das erste Osterfest in den USA feiern, kommt Dieter Hahns Vater zu Besuch.

In der Nacht bricht er sich ein Bein. Also klingelt Dieter Hahn an der Tür eines Nachbarn. Der ist Arzt und bringt den Verletzten zu einem befreundeten Chirurgen. „Später verging kein Tag, an dem dieser Nachbar nicht nach meinem Vater schaute.“ Danach überlegte sich Dieter Hahn, was in Deutschland passieren würde, wenn ein Ausländer nachts an der Tür klingeln und in gebrochenem Deutsch um Hilfe bitten würde. Viele Deutsche, meint er, würden wohl nicht helfen. Manchmal zählen Taten eben mehr als viele Worte.

Von unserem Redakteur Christian Kunst