Arras

Aus der Unterwelt von Arras in die Schlacht

1917 liegt Arras in Trümmern. Die britischen Soldaten kampieren im Freien. Bei deutschem Beschuss flüchten sie in die Unterwelt. Auch vom Grand Place führen Türen hinab.
1917 liegt Arras in Trümmern. Die britischen Soldaten kampieren im Freien. Bei deutschem Beschuss flüchten sie in die Unterwelt. Auch vom Grand Place führen Türen hinab. Foto: Alain Jacques

Über den britischen Soldaten bebt die Erde. Seit Tagen feuert ihre Artillerie nun schon auf die deutschen Linien. Bei jedem Granateinschlag rieselt Kalk von der Decke. 24.000 Männer harren bereits seit sieben Tagen in der Unterwelt von Arras aus. 19 Kilometer zieht sich das gespenstische System aus Stollen und Höhlen unter der französischen Stadt hindurch.

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Aus Arras berichtet unser Redakteur Dirk Eberz

Manche Abschnitte sind hoch wie Kathedralen, andere so eng, dass man kaum sitzen kann. Am 8. April 1917 feiern sie Gottesdienst. Die Rußspuren über dem provisorischen Altar sind immer noch deutlich zu erkennen. Alle nehmen sie teil – auch die, die sonst nie in die Kirche gehen. Es ist Karsamstag. Der Tag vor dem großen Angriff.

Am nächsten Morgen werden sie früh geweckt. Aber geschlafen hat ohnehin kaum jemand. Die Knie zittern nicht nur wegen der Eiseskälte, die in die Glieder fährt. Noch einmal kreist die Rumflasche, um die Angst zu betäuben. Dann werden Zigaretten ausgeteilt. Die übliche Ration vor Großangriffen. Um Risiken und Nebenwirkungen braucht sich keiner zu scheren. Die Gefahr, an den Spätfolgen zu sterben, ist eher gering. Das Frühstück fällt üppig aus. Vielen bleibt das obligatorische Porridge indes im Hals stecken. Denn für viele wird es die letzte Mahlzeit sein. Und das wissen sie alle.

1917 ist von der Kriegseuphorie nicht mehr viel übrig geblieben

1917 ist die Kriegseuphorie längst verflogen. Niemand macht sich mehr Illusionen. In Gedanken rechnen sie sich die Wahrscheinlichkeit aus, die nächsten Minuten, Stunden zu überleben. 1:2? Oder 1:3? Nach menschlichem Ermessen kann eigentlich kein Deutscher das fürchterliche Trommelfeuer überlebt haben, das mit mörderischer Präzision wie eine Feuerwalze über deren Gräben kriecht. Doch wenn nur ein Mann übrig ist, der ein Maschinengewehr bedienen kann, wird er Dutzende Briten töten. Und irgendwie überlebt immer einer. Auch das wissen sie.

Neuseeländische Bergleute haben enge Tunnel bis knapp vor die deutschen Linien gegraben. Durch sie zwängen sich die Männer nun in Richtung Front. Meist gehen sie gebückt, an manchen Stellen müssen sie kriechen. Nichts für Klaustrophobiker. Doch was ist Platzangst schon gegen die Hölle, die sie 20 Meter über ihnen erwartet? „Helfe mir zu sterben, Oh Gott“, beschreibt der britische Dichter Wilfred Owen seine Gefühle an diesem Morgen. Bloß kein Bauchschuss! Bloß kein Granatsplitter, der Arme, Beine oder Kiefer wegreißt! Bloß nicht als Krüppel enden! Owen wird überleben. Vorerst. Er fällt kurz vor der deutschen Kapitulation 1918.

Der blanke Wahnsinn. ein Himmelfahrtskommando

Eigentlich ist es der blanke Wahnsinn, über die Treppen, die Pioniere in den nackten Fels geschlagen haben, aufs Schlachtfeld hinaufzusteigen – ein Himmelfahrtskommando am Tag der Auferstehung. Doch es gibt kein Zurück. Wer sich weigert, kommt vors Kriegsgericht. Und so stockt den Soldaten der Atem, als die Trillerpfeifen der Offiziere ertönen. Das Zeichen zum Angriff.

Rückblick: Im Oktober 1914 erreichen die deutschen Truppen die Vororte von Arras. Und sie sind gekommen, um zu bleiben. Drei lange Jahre lang. Deutsche und Briten haben sich im Halbkreis um das Städtchen im Norden Frankreichs eingegraben. Im Dezember 1914 feiern sie nur wenige Kilometer nördlich gemeinsam Weihnachten. Sie tauschen Hartwürste gegen Plumpudding, singen Weihnachtslieder, unterhalten sich radebrechend miteinander.

1917 ist der kleine Frieden längst vergessen. Da gehen die jungen Männer, die sich gar nicht kennen, wieder aufeinander los. Erschießen, erwürgen, erschlagen sich. Nie ist Krieg so absurd gewesen. 80 Prozent der Häuser von Arras sind zu diesem Zeitpunkt bereits zerstört. Von den ursprünglich 25 000 Einwohnern vegetieren nur mehr rund 1500 in den Trümmern. Kathedrale und Rathaus – die Wahrzeichen der Stadt – liegen in Schutt und Asche. Dazwischen tummeln sich Engländer, Schotten in ihren Kilts und Inder mit Turbanen. Sicher vor dem Beschuss sind sie nur in den alten Steinbrüchen aus dem Mittelalter, die jetzt wiederentdeckt werden. Türen führen hinab in die Unterwelt.

Den Wellington-Steinbruch können Touristen heute noch besuchen – standesgemäß mit britischen Helmen. Ein Aufzug führt hinab in das düstere Labyrinth, das von den 100 Jahre alten Lampen in ein fahles Licht getaucht wird. Mehrere Kilometer Kabel haben die Briten damals verlegt. Und Wasserleitungen. „Latrine“ ist an eine Wand gepinselt. Ordnung muss sein. Auch wenn große Abstriche beim Komfort gemacht werden müssen. Im unterirdischen Lazarett können bis zu 700 Verletzte behandelt werden – und Nachschub gibt's genug.

Wasser tropfte auf die Schlafenden

„Da drüben wohnten Offiziere“, sagt die Fremdenführerin Marjorie und zeigt auf einen winzigen Raum, mühevoll in den Kalkstein gehauen. Etwas weiter stehen die Etagenbetten der einfachen Soldaten. Drei Männer müssen auf den primitiven Holzgestellen übereinander schlafen. Theoretisch. „Die Soldaten klagten über das Wasser, das auf sie heruntertropfte“, erklärt Marjorie. Dutzende Flaschen lassen vermuten, dass sich die Soldaten die Zeit lieber mit Feiern vertrieben haben. Galgenhumor. Immer dann, wenn sie zechen, singen oder Karten spielen, hallen ihre Stimmen durch die düsteren Höhlen. Andere malen ihre Frauen an die Wände. Mal mit mehr, mal mit weniger großer Begabung.

Knapp zehn Kilometer nördlich liegen sich im April 1917 Kanadier und Deutsche gegenüber. Die Höhen von Vimy sind von großer strategischer Bedeutung. Noch heute künden Granattrichter von den schweren Kämpfen. Die Narben in der Landschaft sind geblieben. Auf dem früheren Schlachtfeld grasen Tiere. „Schafe sind die Einzigen, die das Gelände betreten dürfen“, sagt die Fremdenführerin Clothilde. Schilder warnen vor den Gefahren. „Sie sind zu leicht, um die Minen auszulösen.“ Die Natur hat das Gelände zurückerobert. Die Wiesen sind saftig grün, Bäume kaschieren die Wunden, die der Erste Weltkrieg einst geschlagen hat.

Am 9. April 1917 sind die Höhen von Vimy hingegen nicht viel mehr als eine braune Kraterlandschaft. Wie Mahnmale ragen Baumstümpfe aus dem braunen Morast. Andere Sichtmarken sind kaum auszumachen. Dutzende Male ist die geschundene Erde von Granaten umgepflügt worden. Deutsche und Kanadier stehen bis zu den Knien im Schlamm. Am 9. April fällt auch noch Schnee. Gerade mal knapp 50 Meter liegen ihre tief gestaffelten Gräben auseinander – bedrückend nah. Der Gestank ist bestialisch. Im Niemandsland verwesen die Toten. Oft wochen- und monatelang. Bei jedem Granateinschlag werden ihre Leichen durch die Luft geschleudert. Sanitäter, die sie bergen wollen, werden beschossen.

Nur beim Latrinengang bleiben die Soldaten meist verschont

Schon wer den Kopf über die Brüstung streckt, tut es meist zum letzten Mal. Überall lauern Scharfschützen. Selbst der Blick durch die winzigen Gucklöcher ist lebensgefährlich. Nur beim Latrinengang schweigen meist die Waffen. Auf beiden Seiten ist man übereingekommen, dass es unwürdig ist, mit heruntergelassener Hose zu sterben. Ansonsten wird auf alles gefeuert, was sich bewegt. Vor allem die Essensholer, die sich von den hinteren Linien an die vorderste Front vorarbeiten müssen, leben gefährlich. Oft bleibt nicht nur das Essen kalt zurück.

Meldegänger geraten sogar ins Visier der Artillerie. Oft aus reiner Langeweile. Ein grausames Spiel. „Bei den Kanadiern erhielten sie ein Vielfaches des normalen Solds“, erklärt die kanadische Reiseführerin. Die wenigsten haben Gelegenheit, ihn auszugeben. Dafür genießen sie ein weiteres Privileg. „Meldegänger durften nachts in Räumen unter der Erde schlafen.“ Eigentlich sind sie nicht mehr als feuchtkalte Erdlöcher. „Aber sie waren sicher vor Granaten.“ Und besser als die verschlammten Schützengräben sind sie allemal.

Auch auf den Höhen von Vimy führen enge Tunnel bis unter die vordersten deutschen Linien. Am frühen Morgen des 9. April werden sie gesprengt – wie in Arras. Die Überraschung gelingt: Die Deutschen werden von den gewaltigen Detonationen und den heranstürmenden Briten und Kanadiern überrascht. Schnell sind die vordersten Linien überrannt. Nach wenigen Stunden haben die Angreifer einige Dörfer zurückerobert. Oder vielmehr das, was von ihnen übrig geblieben ist: rauchende Ruinen.

Arras wird im Laufe der Schlacht aus dem Würgegriff der Deutschen befreit. Die Alliierten haben die Front am Ende um gut zehn Kilometer nach Osten verschoben. Doch um welchen Preis! Mehrere Zehntausend Männer sind in dem blutigen Gemetzel auf beiden Seiten gefallen. Wie viele genau, kann heute niemand mehr sagen. Etliche sind bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. 4000 Tote sollen es allein auf britischer Seite gewesen sein – pro Tag. Danach graben sich die Soldaten wieder ein.

Die Gefallenen sind streng nach Nationen begraben. Die Kanadier auf den Höhen von Vimy, die Briten bei Arras, die Deutschen in Neuville-Saint-Vaast. Dort sind sie mit den anderen Deutschen bestattet, die in Nordfrankreich gefallen sind: insgesamt 44 833. Alle Namen sind in einer Liste erfasst. Vier Deutsche teilen sich ein Kreuz. Der Friedhof wird von der Deutschen Kriegsgräberfürsorge liebevoll gepflegt.

Mit einem internationalen Mahnmal auf dem Plateau von Notre-Dame-de-Lorette soll ein Zeichen der Versöhnung gesetzt werden. Gegenüber dem französischen Nationalfriedhof sollen hier die Namen von 600.000 Soldaten eingraviert werden, die in der Region während des Ersten Weltkriegs gefallen sind – in alphabetischer Reihenfolge, ohne Unterscheidung der Nationalität. Es soll 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 11. November vom französischen Präsidenten François Hollande eingeweiht werden.