Lingerhahn

Asylsuchende in Lingerhahn: Angekommen – und auch willkommen?

Am Anfang läuft es ziemlich holprig für das Projekt des Gemeinderats von Lingerhahn um Ortsbürgermeister Uwe Schikorr. Angesichts der dramatischen Meldungen über die Not der Flüchtlinge aus Krisengebieten hat Schikorr die Idee entwickelt, ein leer stehendes großes Haus im Ortskern der 450 Einwohner zählenden Gemeinde im Hunsrück für ein Flüchtlingsprojekt umzufunktionieren.

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Schikorr ist wie ein Teil des Rats bei der Wahl im Vorjahr neu ins Amt gekommen und voller kreativer Ansätze. Ein gutes Dreivierteljahr nachdem der 52-Jährige seine Idee erstmals im Rat vorgestellt hat, ist das Projekt nach einer zunächst harten Debatte auf dem Weg. Lingerhahn erlebte eine beispielhafte Diskussion, wie sie in jedem Dorf stattfindet, meist jedoch nur im privaten Gespräch.

1 Der Startversuch: Anfang Februar spricht sich der Gemeinderat mit großer Mehrheit dafür aus, ein leer stehendes, gemeindeeigenes Anwesen an den Kreis zu vermieten, um hier ein Flüchtlingsprojekt zu realisieren. Das Projekt, das im Herbst 2014 gestartet ist, soll Pilotcharakter haben. Doch die Situation ist zu diesem Zeitpunkt im Ort bereits gespalten: In Abstimmung mit der Kreisverwaltung und der Verbandsgemeinde hat im Januar eine Bürgerversammlung stattgefunden, bei der die unüberlegte Äußerung gefallen ist, dass theoretisch 20 bis 25 Flüchtlinge im Haus untergebracht werden könnten. Intern gibt es ersten Unmut, während die Gemeinde von außen viel Zuspruch erhält. Peter Unkel als Bürgermeister der Verbandsgemeinde Emmelshausen unterstützt das Projekt ausdrücklich. „Wir müssen geradezu dafür werben, dass wir Zuzug bekommen“, sagt er bei einer öffentlichen Ratssitzung mit Blick auf den demografischen Wandel. „Wir müssen uns dabei auch daran gewöhnen, dass Neubürger heute andere sind als vor 20 oder 30 Jahren.“

2 Die Gegenwehr: Anfang Februar fasst der Gemeinderat den Entschluss, ein Projekt mit 10 bis 15 Personen zu realisieren. Daraufhin wird ein Bürgerbegehren aus dem Dorf heraus auf den Weg gebracht. Keine 72 Stunden nach dem Ratsspruch erhält Ortschef Schikorr eine von 152 Bürgern unterschriebene Liste. Gefordert wird darin ein Bürgerentscheid über die Frage, wie das für das Flüchtlingsprojekt vorgesehene Haus künftig genutzt werden soll. Drei Monate später weiß Schikorr: „Die Bürger haben wohl aus sehr unterschiedlichen Gründen unterschrieben, manche fühlten sich einfach nicht ausreichend informiert.“ Vorausgegangen ist dem Begehren ein Flugblatt, das anonym im Dorf verteilt worden ist und klar darauf abzielte, Ängste zu schüren und das Wohnprojekt letztlich zu verhindern. Die Urheber des Begehrens distanzieren sich in jeglicher Form vom Flugblatt, aber es existiert eben. Obwohl das Begehren nicht den Regularien der Gemeindeordnung entspricht und damit nicht zulässig ist, löst es im Rat ein tiefes Reflektieren aus.

3 Die Wende: Erneut tagt der Gemeinderat im Februar öffentlich – vor fast 150 Zuhörern. „Wenn wir das heute Abend so weiterlaufen lassen, knallen wir aufeinander. Am Ende gibt es dann vielleicht einen Gewinner, aber auch einen Verlierer: das Dorf“, sagt Schikorr in einer persönlichen Ansprache. Am Ende kommt es zu einem Kompromiss, mit dem sich alle Beteiligten arrangieren können und der Außenstehenden viel Lob abverlangt. „Ich habe allerhöchsten Respekt vor dieser Entscheidung. Der Gemeinderat hat den Weg zu den Bürgern gewählt“, sagt Verbandsgemeindechef Unkel.

4 Der Neustart: Das Lingerhahner Flüchtlingsprojekt wird ganz neu aufgesetzt. Die Gemeinde beschließt, das angedachte Haus und eine weitere leer stehende Wohnung im Gemeindehaus an Menschen mit Aufenthaltstiteln nach dem Asylgesetz zu vermieten. „Wir haben das, was wir angekündigt haben, beschlossen“, sagt Bürgermeister Schikorr. Er bedankt sich ausdrücklich bei allen, die sich konstruktiv für das Gelingen der Idee eingebracht haben.

Unterbringung immer schwieriger
Foto: Fotolia

5 Die Umsetzung: Nur wenige Tage nach dem finalen Beschluss des Gemeinderates gründet sich die private Initiative „Willkommen in Lingerhahn“. Der Zuspruch der Bevölkerung ist groß, zum Auftakttreffen kommen bereits 40 Bürger. In den folgenden Wochen werden zahlreiche Möbel und private Dinge gespendet, die Flüchtlingsarbeit erfüllt sich mit viel Leben. Es entwickelt sich das, was sich die Gemeinde von Beginn an erhofft hatte. So holprig der Start gewesen sein mag, so rund läuft es jetzt, wenn es darum geht anzupacken. Als erfahrener Fachmann im Bauwesen bringt sich der Lingerhahner Robert Gödert gemeinsam mit Schikorrs Ehefrau Juliane – einer Architektin – bei den Umbauplanungen ehrenamtlich mit ein, neben dem Einsatz regionaler Firmen sind viele Bürger bei den Arbeitseinsätzen dabei. „Das Engagement ist eindrucksvoll“, sagt Schikorr, der mit Freude beobachtet, wie gemeinsam Tapeten und Bodenbeläge entfernt, Wände gestrichen und Fußleisten lackiert werden. Rund zwei Dutzend Bürger packen bei den Arbeiten mit an. „Jeder ist voll motiviert.“

6 Der Einzug: Bis Ende des Jahres soll das leer stehende Haus umgebaut und mit vier Wohneinheiten eingerichtet werden. Noch sind Fragen des Brandschutzes zu beantworten, die Haustechnik muss von der Heizung bis zur Wasserleitung erneuert werden, ein Großteil der wohl sechsstelligen Investition ist noch zu tätigen. Aber die erste Etappe ist fast geschafft, die renovierte Wohnung im Gemeindehaus soll bald fertig sein. „Und bis Ende des Jahres ist auch das Haus bezugsreif“, sagt Schikorr. Der Tag des Einzugs wird ein Tag, an dem die Dorfgemeinschaft feiern kann. Sie hat sich zusammengefunden, um ein großes Projekt des Miteinanders zu verwirklichen.

Volker Boch