Schottland

Abstimmung: Schotten zeigen Flagge für ihre Unabhängigkeit

Überheben sich die Schotten mit ihrem Vorhaben? Ein Junge hält in Edinburgh eine schottische Flagge mit der Aufschrift "Yes" in den Händen. Das Schottland-Referendum verspricht ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Befürwortern und Gegnern der Unabhängigkeit zu werden. Foto: dpa
Überheben sich die Schotten mit ihrem Vorhaben? Ein Junge hält in Edinburgh eine schottische Flagge mit der Aufschrift "Yes" in den Händen. Das Schottland-Referendum verspricht ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Befürwortern und Gegnern der Unabhängigkeit zu werden. Foto: dpa

Schreibt Schottland am Donnerstag Geschichte? Das Referendum stellt Großbritannien vor eine Zerreißprobe. ein „Yes“ würde ganz Europa verändern.

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Von Alexei Makartsev

Die Demütigung dauerte etwa 20 Sekunden. So lange brauchten die Hawk-T1A-Jets, um am 23. Juli Glasgow in einer Pfeil-Formation zu überfliegen. Die Queen und die Besucher des Stadions Celtic Park legten die Köpfe in den Nacken. Auf dem Höhepunkt der Eröffnungszeremonie der Commonwealth Games zogen die neun Hawks neun lange Rauchschwänze durch den wolkenfreien Himmel. Jeder in der westschottischen Stadt mit 600 000 Einwohnern konnte es klar erkennen: Sie waren britisch rot-weiß-blau. Nicht blau-weiß wie die schottische Nationalflagge „The Saltire“.

Es war ein Eklat. Die Organisatoren der Spiele hatten das britische Verteidigungsministerium darum gebeten, einmal auf die Farbe Rot beim Überflug der berühmten Kunstflugstaffel „Red Arrows“ zu verzichten, um Schottland sichtbar zu würdigen. „No“, hieß es kühl in London, Rot gehöre immer dazu, alles andere sei eine „Protokollverletzung“. Sieben Wochen vor dem Referendum über die schottische Unabhängigkeit traf die liberal-konservative Koalition von David Cameron eine Entscheidung, die den Nationalstolz ihrer Nachbarn verletzt hat und die sie bitter bereuen könnte.

Der Schicksalstag könnte enorme Konsequenzen haben

Denn am heutigen Schicksalstag für die kleine Nation der Kiltträger und Whiskytrinker sind 4 285 323 Stimmberechtigte dazu aufgerufen, eine einfache und doch schwierige Frage zu beantworten: „Sollte Schottland ein unabhängiger Staat werden?“ Ein mehrheitliches Ja würde einen gewaltigen Transformationsprozess auslösen, dessen Konsequenzen nicht nur in London, sondern auch in Brüssel, Paris und Berlin spürbar wären. Schottland steht kurz davor, das kollektive Schicksal Europas zu verändern. Die stets neutrale Queen, die sich zuletzt vor 47 Jahren eine politische Äußerung erlaubt hat, wird wohl nicht mehr ruhig schlafen können. Sie sollten vor der Stimmabgabe „sehr gründlich nachdenken“, empfahl am Wochenende die besorgte Monarchin den Kirchgängern im schottischen Balmoral.

Seit 1707 leben Schotten und Engländer unter einem gemeinsamen Staatsdach. Die Union ist eine Erfolgsgeschichte. Dennoch durstet es viele Menschen nördlich des Hadrianwalls seit Generationen nach Freiheit und nationaler Eigenständigkeit. „Jeder Mensch verdient ein eigenes Land. Wir sind verheiratet seit 307 Jahren, jetzt wird die Zeit reif für eine Scheidung“, zitierte „The Times“ eine Bewohnerin in Dundee. Die Idee war schon immer da. Sie wartete jedoch auf eine besondere Konstellation politischer Faktoren und auf einen Mann, der bereit gewesen wäre, für sie bis ans Äußerste zu gehen.

Falkirk, vor sieben Jahren. Ein rundlicher Mann mit Lachfalten um die Augen schüttelt vor einer Feuerwehrwache den Wählern die Hände. „Unser Land ist bereit für einen Riesensprung. Das Ziel ist zum Greifen nahe. Nach vier Jahren werden wir ein Referendum für die staatliche Unabhängigkeit von Großbritannien abhalten“, sagt feierlich Alex Salmond, der Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP).

Die Engländer als Fremde mit einem unverständlichen Humor

Der frühere Ökonom und flammende Rhetoriker galt lange in seinem Land als naiver Träumer. Das änderte sich 2007, als die SNP 47 von 129 Sitzen im schottischen Regionalparlament Holyrood gewann und eine Minderheitsregierung bildete. Salmonds Erfolg hauchte der Souveränitätsidee neues Leben ein. Der damals 53-jährige „First Minister“ hatte einen Plan, wie er Westminster austricksen konnte. Salmond brauchte nur noch Zeit – und etwas Glück.

2010 ging die Labour-Ära in Großbritannien zu Ende. In London kamen die bei Schotten extrem unbeliebten Tories an die Macht. Die SNP nutzte den Frust und die Politikverdrossenheit der Bürger, um in ihren Herzen die noch diffuse Idee einer Loslösung aus dem Königreich zu festigen. Ohnehin sehen viele Schotten die Engländer als Fremde mit anderen Bräuchen, Traditionen, einem viel ausgeprägteren Klassenbewusstsein und einem unverständlichen Humor. Seit der Vereinigung mit England 1707 empfanden viele Menschen im Norden des Königreichs den Lebensbund der Nationen als eine Zwangsehe, in der sich der schwächere Partner immer unterordnen musste. Dass die Politiker in Westminster über ihre Renten bestimmen und ihre Steuern ausgeben, treibt bis heute viele Schotten auf die Palme.

Salmond: Schottland war früher sogar wohlhabender als England

Alex Salmonds Trick bestand darin, seinen Landsleuten glaubhaft zu machen, dass es auch anders geht. Ein Jahr nach der Begegnung in Falkirk sagte der schottische Regierungschef im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“, warum er so überzeugt von dem Ideal der Unabhängigkeit sei. „Weil Schottland eine Nation ist. Und Nationen regieren sich besser selbst“, antwortete Salmond, in dessen Büro ein patriotisches Gemälde mit zwei blonden Kindern vor einer riesigen „Saltire“-Fahne hing. Könnte Schottland denn allein wirtschaftlich überleben? Er lächelte nachsichtig: „Nach dem Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt würden wir auf Platz drei in der EU steigen“. Ende des 19. Jahrhunderts sei sein Land sogar wohlhabender gewesen als England und die USA, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, erklärte der SNP-Chef. „Schottland war die Wiege der industriellen Revolution. In vielerlei Hinsicht erfand es die moderne Welt. Ich will wieder erreichen, dass wir die Ersten sind.“

Die Voraussetzungen dafür waren 2011 erfüllt, als die Nationalisten mit 69 Sitzen die absolute Mehrheit in Holyrood errangen und in eine neue politische Gewichtsklasse aufstiegen. Erstmals bekamen die Politiker in London kalte Füße. „Ich werde mit jeder Faser meines Körpers gegen die schottische Unabhängigkeit kämpfen“, versprach David Cameron. Doch der Konservative war seinem raffinierten Gegenspieler unterlegen.

Das heutige Referendum läuft faktisch nach den Bedingungen der Nationalisten ab. Um den patriotischen Bonus voll auszuschöpfen, hatten sie darauf bestanden, die Abstimmung nach dem 700. Jahrestag der Unabhängigkeitsschlacht von Bannockbyrn (23. Juni 1314) abzuhalten, in der Schottlands König Robert the Bruce seinen englischen Rivalen Edward II. schlug. Salmond hatte Cameron ein weiteres Zugeständnis abgerungen: Erstmals werden bei einem Referendum in Großbritannien 16- und 17-Jährige abstimmen dürfen. Damit holt die SNP die junge Generation mit ins Boot, die der Idee des schottischen Alleingangs aufgeschlossen gegenübersteht.

Für David Cameron dürfte es kaum eine schwärzere Perspektive geben als den möglichen Satz in den Geschichtsbüchern: „der Premier, der das Vereinigte Königreich nicht zusammenhalten konnte“. Die meisten Analysten sind sich einig, dass der 47-jährige Tory-Vorsitzende nach einen schottischen Ja aus seinem Amt geputscht werden könnte. Camerons große Hoffnung ist das spürbare Unbehagen vieler Schotten vor dem Aufbruch ins Ungewisse. Die von London aus geführte Nein-Kampagne hat den Nachbarn hartnäckig dieses Albtraummantra eingehämmert: Auf sich allein gestellt, würde ihr Land von den gewaltigen Kosten der Unabhängigkeit (geschätzte 3 Milliarden Euro) erdrückt werden und spätestens bei der nächsten Finanzkrise untergehen.

Die Unruhe der Investoren und Großbanken wird größer

Ob es so kommt oder ob etwa die Öl- und Gasvorräte in der Nordsee (Exportwert: 30 Milliarden Euro) den Schotten ein ausreichendes finanzielles Polster für schlechte Zeiten bieten würden, weiß heute keiner. Fest steht aber: Das unabhängige Land mit fünf Millionen Einwohnern müsste um die (Wieder-) Aufnahme in die EU und die Nato bangen und sich vermutlich auch vom Pfund verabschieden, weil die Konservativen und Liberaldemokraten sich gegen eine Währungsunion sperren. In der Woche vor der Abstimmung wuchs in Edinburgh die Unruhe der Investoren und der Großbanken, die bereits über eine Auslagerung ihrer Zentralen nach London nachdenken. „Das unabhängige Schottland wird mehr Pandas als Banken haben“, hieß es daraufhin spöttisch in London.

„Es wird keinen Weg zurück geben“, bekommen die Schotten immer wieder aus London zu hören. Doch die Idee der nationalen Selbstbestimmung ist nicht so leicht totzukriegen. Keine Angst vor Krisen, Bankensterben und Versiegen der Ölquellen ist den Separatisten stark genug, um ihr Freiheitsideal aufzugeben. Salmonds Prophezeiung ist wahr geworden: Eine Nation hat ihre eigene Stimme entdeckt. Die Schotten sind stolz darauf, dass sie heute die ganze Welt hören wird. „Schottland ist wie ein wachsendes Kind“, sagte mir noch vor sieben Jahren in Edinburgh der zukünftige Chefstratege der nationalistischen Referendum-Kampagne, Angus Robertson. „Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Die einzige Frage nur ist, wie lange es bis zur Reife dauert.“