20 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica: Mehr Gräber als Menschen

An das Massker in Srebrenica erinnert heute eine Gedenkstätte.
An das Massker in Srebrenica erinnert heute eine Gedenkstätte. Foto: dpa

Am Samstag jährt sich der Massenmord von Srebrenica. Auch 20 Jahre nach dem Massaker ist die Stadt noch nicht auf die Beine gekommen. Hilfsgelder in Millionenhöhe versickern. Srebrenica bleibt eine entvölkerte und gespaltene Schattenstadt.

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Die Stadt ist für ihre geschrumpfte Bevölkerung zu groß geworden. Leere Fensterhöhlen gähnen in Srebrenica in nie wieder aufgebauten Kriegsruinen. „Zu verkaufen“ lautet die Botschaft, die selbst auf den Fenstern renovierter Häuser an der Marschall-Tito-Straße prangt. Die Tür des Jugendzentrums ist genauso verriegelt wie der mit Moos überzogene Eingang der Diskothek Acapulco. Srebrenica sei eine „verlassene Stadt“, sagt Avdo Purkovic, der Eigentümer der Pension Misirlije: „Es gibt kein Leben mehr in Srebrenica.“

Von der UNO preisgegeben

Zwischen den endlosen Reihen weißer Grabstelen betet ein alter Mann mit erhobenen Händen. Unter Führung von General Ratko Mladic waren bosnisch-serbische Truppen am 11. Juli 1995 nach mehr als zweijähriger Belagerung in die von den überforderten Blauhelmen der niederländischen UNO-Einheit Dutchbat kampflos preisgegebenen Muslim-Enklave einmarschiert. Nur Frauen und Kinder durften Srebrenica in Buskonvois verlassen. Ihre Söhne und Brüder, Männer und Väter blieben zurück. Bei generalsmäßig organisierten Exekutionen wurden in den folgenden Tagen selbst Jugendliche und Greise in den umliegenden Wäldern ermordet – und in Massengräbern verscharrt. „8732 kamen nicht an“, erinnert ein Plakat im Gedenkzentrum von Potocari an die Opfer des Massenmords.

Längst zählt die Stadt mit dem Kainsmal mehr Gräber als Menschen. Vor dem Krieg galt Srebrenica dank seiner Edelmetallvorkommen, der Holzindustrie und seiner Heilquelle als eine der reichsten Gegenden Bosniens. Zählte sie damals mehr als 36 000 Menschen, ist deren Zahl auf weniger als 7000 geschrumpft. In der entvölkerten Schattenstadt selbst hausen nach unterschiedlichen Schätzungen nur noch 1000 bis 3000 von einst 10 000 Menschen. Auch 20 Jahre nach dem Massaker werden in Srebrenica noch immer die Toten begraben. 6241 der Opfer haben auf dem Friedhof von Potocari bisher ihre letzte Ruhestätte gefunden. Am Samstag sollen die Überreste von weiteren 136 Personen endlich bestattet werden. Erschwert wird die Suche nach den Vermissten durch die mehrfache Umbettung der Massengräber, mit der der Völkermord vertuscht werden sollte.

Bosnische Serben patrouillierten durch die leeren Straßen von Srebrenica: Sie verübten ein Massaker.
Bosnische Serben patrouillierten durch die leeren Straßen von Srebrenica: Sie verübten ein Massaker.
Foto: picture alliance

Ein vergilbtes Schild am verwahrlosten Spielplatz verweist auf dessen Sponsor. Allein aus den Niederlanden sollen in den vergangenen zwei Jahrzehnten Hilfsgelder in dreistelliger Millionenhöhe geflossen sein. Wo diese geblieben sind, weiß niemand. „Wenn alle Gelder für Srebrenica hier angekommen wären, hätten wir heute Vollbeschäftigung – und keine Arbeitslosen“, sagt im Rathaus der Wirtschaftsberater Cazim Salimovic seufzend: „Doch die Gelder flossen über Sarajevo – und der Großteil blieb auch dort hängen.“

Bitterarmes Ostbosnien

Srebrenica steht immer noch etwas besser da als andere Kommunen im bitterarmen Ostbosnien, versichert Salimovic. Immerhin sei die Ansiedlung von Betrieben zur Produktion von Holzpellets und Pommes frites geglückt. Doch so wie Srebrenica einmal war, werde es „nie mehr werden“, räumt er ein. Denn die Zuständigkeit für die Naturressourcen liege nicht mehr bei der Stadt, sondern beim Teilstaat der Republika Srpska.

Auch wenn im örtlichen Fußballklub Serben und Muslime längst wieder gemeinsam kicken, kann von Versöhnung keine Rede sein. Der Kindergarten in Srebrenica wird derzeit von den serbischen Eltern wegen des Kopftuchs einer muslimischen Betreuerin boykottiert. Die Muslime wiederum ärgern sich über die vor dem Jahrestag vermehrt in der Stadt auftauchenden Plakate mit dem Konterfei von Russlands Präsident Wladimir Putin, die für „die östliche Alternative“ werben. Und sie ärgern sich nicht nur darüber. „Dabei wäre das, was wir hier wirklich bräuchten, eine Zukunft – und nicht immer wieder der destruktive Blick zurück“, klagt eine Frau. Thomas Roser