„Helft uns leben“: Auf den Philippinen ist die Katastrophe noch überall

Spuren der Naturgewalten: Vier große Frachter wurden in die Siedlung im Stadtteil Anibong von Tacloban gespült.
Spuren der Naturgewalten: Vier große Frachter wurden in die Siedlung im Stadtteil Anibong von Tacloban gespült. Foto: Ulf Steffenfauseweh

Ein Jahr nach dem Taifun „Haiyan“ lächeln die Menschen auf den Philippinen schon wieder. Aber es gibt noch so viel zu tun: Überall sieht man noch katastrophale Schäden, die der Taifon „Haiyan“ vor einem Jahr angerichtet hatte.

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Unser Redakteur Ulf Steffenfauseweh hat sich auf der philippinischen Insel Leyte den Wiederaufbau angesehen

Raul B. Lagario junior ist zurück. Eigentlich sollte er es nicht sein, sollte nicht wieder so nah am Wasser bauen. Die Regierung hat Schilder aufgestellt, die ersten 40 Meter Küste zur „No Build Zone“ erklärt. Da, wo Raul B. Lagario junior Holzlatten zum neuen Heim seiner sechsköpfigen Familie zusammenzimmert, sind es vielleicht 20 Meter. Und davor haben schon andere gebaut, etliche. „Es gibt einfach nicht genug Platz, und Grundstücke sind zu teuer“, sagt Raul in stockendem Englisch, zuckt kurz mit den Schultern und lacht dann wie so viele Philippinos trotz allem über das ganze Gesicht. „Ich bin optimistisch für die Zukunft!“ Und wenn wieder ein Taifun kommt? „Dann“, antwortet sein siebenjähriger Sohn Justin, „rennen wir in die Berge, an irgendeinen sicheren Ort – so wie bei ,Yolanda'.“

„Yolanda“, das ist der Wirbelsturm, den der Rest der Welt „Haiyan“ nennt. Vor einem Jahr, am 8. November 2013, peitschte er mit unvorstellbarer Geschwindigkeit über Teile der Philippinen, brachte Tod und Zerstörung. Die erste Stadt, auf die er traf, war Tacloban. Raul B. Lagario junior verlor Hab und Gut – so wie praktisch alle Menschen im Stadtteil Anibong nahe dem Hafen. Der Taifun riss die Hütten weg und spülte vier große Frachter in die Siedlung. Dreieinhalb davon stehen dort noch heute, unter ihnen liegen höchstwahrscheinlich Leichen.

Immerhin sind die Schiffe ein wenig abgestützt, aber das Abwracken dauert lange. Die Philippinos haben Wichtigeres zu tun. Und so steht neben Rauls neuer Hütte die „Eva Jocelyn“ wie ein riesiges Mahnmal. Besucher haben Segenswünsche und Durchhalteparolen daraufgekritzelt, in großen Lettern kann man noch die Bitte der ersten Tage lesen: „Wir brauchen Nahrung – Reis und Wasser“, steht da auf Englisch.

Heute hat oben auf dem Frachter eine Familie Quartier bezogen. Viele andere haben wie Raul ihre Häuser aus Holz und Wellblech wieder an der Küste aufgeschlagen. „Welcome to Yolanda Village“ steht auf einem Stück Holz, das sie wie ein Ortseingangsschild aufgehängt haben.

Esther Wittstock aus Kleinmaischeid (Kreis Neuwied) kennt die Stelle. 20 Kilometer südlich hilft sie mit ihrem Westerwälder Studentenverein „Charity Event“ beim Wiederaufbau einer Dorfschule. Dabei hat man ihr auch den Ort gezeigt, der optisch das wohl eindringlichste Bild der längst nicht beseitigten Katastrophe abgibt.

Beim vorangegangenen Besuch, so erzählt Esther Wittstock, hatte sie sich mit einem zwölfjährigen Mädchen unterhalten, das im Chaos spielte. Ihr Vater hatte das Kind beim Taifun auf einem Dach in Sicherheit gebracht und war dann zurückgegangen, um die Geschwister zu holen. Das Mädchen wartete stundenlang im Dauerregen. Vergeblich. Alle acht Familienangehörigen starben an diesem 8. November 2013.

Das Haus ist noch nicht wiederaufgebaut

So wie dem Mädchen erging es vielen Philippinos an diesem schrecklichen Tag – nicht nur in Tacloban. Eine Autostunde weiter westlich, in der Stadt Ormoc, erzählt Bernard Cillado, dass er sich während des Wirbelsturms mit seiner zweijährigen Tochter im Schlafzimmer des Familienhauses versteckte und zitterte. „Das war der einzige gemauerte Raum. Alles Drumherum flog weg, und wir hatten auch schon die Fenstergitter herausgemacht, um fliehen zu können“, sagt er. Auf die Frage, ob er das Haus wiederaufgebaut hat, lächelt er freundlich. „Nein, das sieht fast noch genauso aus.“

Priorität hatte bislang das Überleben, für mehr reichte es nicht. Staatliche Hilfen bekommt er keine, einzig der neue Job gibt ihm Hoffnung. Ein regelmäßiges Einkommen, wie er es seit einigen Wochen verdient, ist auf Leyte ein Glücksfall. Und er hat eine gute Arbeit: Bernard Cillado arbeitet für die Bonner Hilfsorganisation „Help“ und koordiniert den Wiederaufbau mehrerer Schulen in Ormoc, in den auch Gelder von HELFT UNS LEBEN, der Leserinitiative unserer Zeitung, fließen (siehe unten stehenden Artikel).

Ähnlich wie Bernard Cillado ergeht es seiner Help-Kollegin Elsie Salazar. „Das, wofür ich vier Jahre gespart hatte, war in vier Stunden weg. Da habe ich erst einmal vier Tage durchgeheult“, erzählt die Ingenieurin und berichtet, dass sie zwar einiges provisorisch wieder aufgebaut hat, es aber nach wie vor ins Haus hineinregnet. Sie wüsste, wie man es abdichten könnte, allein das Geld für Material fehlt.

Und trotzdem. Auch Elsie lächelt, so wie die meisten Menschen im philippinischen Katastrophengebiet. „Ich bin nicht tapfer“, findet sie. „Anderen geht es doch noch schlechter als mir.“ Wen sie damit meint, sagt sie nicht. Bernards Vater, der seit dem Taifun permanent zittert? Ihren eigenen Sohn (11), der während der Katastrophe vor Angst nicht sprechen konnte? Oder einfach einen der anderen Menschen um sie herum? Um Not und Elend zu sehen, muss man auf Leyte nicht lange suchen – weder in Ormoc noch in Tacloban oder in den vielen kleinen Orten und Dörfern, über die Taifun „Haiyan“ vor einem Jahr zog.