Berlin

Berliner beschimpfen neuerdings Touristen – Ganze Viertel ächzen unter Lärm und Müll

In anderen Regionen würden Politiker vor Freude Luftsprünge machen, nicht aber in Berlin. Die Touristenzahlen steigen hier seit Jahren in großen Sprüngen an. 2013 wurden mit 11,3 Millionen Gästen und fast 27 Millionen Übernachtungen neue Rekorde erzielt.

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Von Rena Lehmann

Doch der Jubel bleibt aus, im Gegenteil. Den Berlinern ist der Rummel zu viel. „Du Touri“ ist beliebtes Schimpfwort geworden. Eine Bezirksbürgermeisterin fordert jetzt sogar Benimmregeln für Berlins Gäste. Dabei ist der Tourismus mit 275 000 Beschäftigten eine der wichtigsten Einnahmequellen der notorisch finanziell klammen Hauptstadt. Aber der Boom hat seine Begleiterscheinungen.

Berlin hat sich im vergangenen Jahrzehnt den Ruf als hippe Party-Metropole erarbeitet, in der alles möglich ist. Reiseführer wie Lonely Planet und Co. haben dafür gesorgt, dass einst alternative Biotope wie das wilde Kreuzberg und Friedrichshain heute von Junggesellenabschieden und Jugendgruppen in Feierlaune aus der ganzen Welt heimgesucht werden.

Die Einheimischen, oft selbst Zugezogene aus Westdeutschland, reagieren zunehmend empfindlich. Wer einen Rollkoffer durch Kreuzberg zieht, muss sich blöde Sprüchen anhören. Deftige Beschimpfungen wie „Scheiß-Touri“ sind an Radwegen und in U-Bahnen keine Seltenheit mehr. Im links-liberalen Kreuzberg stehen neuerdings sogar Sprüche wie „Ami go home“ auf Häuserwänden – zu deutsch: Amerikaner sollen nach Hause gehen. Die Touristen-Feindlichkeit nimmt manchmal sogar rassistische Züge an.

Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit wollte immer, dass Berlin von seinem weltoffenen Flair, dem Mythos der Freiheit der einst geteilten Stadt profitiert. Sein Spruch, Berlin sei zwar „arm, aber sexy“, hat erst dazu beigetragen, dass die 3,5 Millionen-Einwohner-Stadt in Europa und darüber hinaus zur günstigen wie aufregend unkonventionellen Party-Metropole wurde. Manche Bezirke sehen sich nun insbesondere vom jungen Partyvolk aus dem Tritt gebracht.
An manchen Tagen ist es in der Tat heftig. Zwischen S-Bahnhof Warschauer Straße und U-Bahnhof Schlesisches Tor, zwischen East Side Gallery und Cocktail-Meile Simon-Dach-Straße, tobt seit Monaten das grenzenlose Nachtleben. In Clubs wie dem legendären Berghain und anderen Lokalitäten kann man hier über Tage durchfeiern. Dönerstände und Fastfood-Ketten haben sich auf den Dauerhunger der Feierwütigen aus aller Welt eingestellt. Der ungeliebte Nebeneffekt sind Lärm und Müll. Nach einem wilden Wochenende gleicht die Oberbaumbrücke einer nach Urin stinkenden Müllhalde.

Auf der anderen Seite pulsiert das kreative Leben. Musiker und Komödianten haben hier in der Nähe der früheren Grenze zwischen Ost und West spontane Auftritte vor Hunderten von Leuten. Vor allem Studenten lieben den Freiraum der Großstadt. Plötzlich hört man ein tolles Konzert, einfach so, draußen, in voller Lautstärke.
Die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann kann da mit ihrem Ruf nach einem sanfteren Tourismus wenig ausrichten. Massen von Hostels und Souvenirläden gründen ihre Existenz auf dem wachsenden Tourismus. Hermann schimpft: „Fast im ganzen Bezirk kann man nachts wegen des Lärms nicht mehr mit offenen Fenster schlafen.“ Die Hostels bezeichnet sie als „Problem“, weil „nachts die Besucher mit lauten Rollkoffern zum Flughafen aufbrechen oder betrunken vom Feiern kommen und in die Hauseingänge kotzen.“ Aber statt einen „sanfteren Tourismus“ anzustreben, wolle man in Berlin „immer mehr, mehr, mehr“. Herrmann will einen „Verhaltenskodex“ an Besucher verteilen. Vorbild ist Amsterdam. Dort wurden Postkarten gegen das Pinkeln im Freien gedruckt – und hat es offenbar ein Umdenken bei den Gästen gegeben. Warum sollte das nicht auch in Berlin klappen?

In der Hauptstadt steckt hinter der Wut auf Touristen allerdings noch mehr. Seit Jahren ziehen in den beliebten Bezirken Pankow, Friedrichshain-Kreuzberg und inzwischen auch Neukölln die Mieten an. Viele Alteingesessene sehen sich von Immobilienspekulanten verdrängt. Der „Touri“ oder wahlweise auch der „Schwabe“, der angeblich überall Wohnungen aufkauft, um damit Geld zu machen, ist da willkommener Sündenbock. Touristen sollten sich davon nicht schrecken lassen. Der Berliner galt ja bekanntlich noch nie als besonders zuvorkommender Gastgeber – und wenn man mal genauer nachfragt, ist er selbst meist auch irgendwann zugezogen.