Urban Exploring: Der Schönheit des Verlassenen auf der Spur

Sie klettern durch kaputte Fenster, kriechen durch enge Löcher, dunkle Schächte und vergessene Tunnel, nur um in ein ehemaliges Gefängnis zu gelangen, dessen triste Mauern noch mit Stacheldraht gesichert sind. Längst von Studenten verlassene 
Hörsäle und einst pompöse Villen sind ebenfalls begehrte Ziele der Urban Explorer, kurz Urbexer genannt. Was bringt Menschen dazu, Ruinen zu betreten, deren Dächer 
jederzeit einstürzen können, und dabei mit einem Bein im Gefängnis zu stehen?

Lesezeit: 7 Minuten
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Von unserem Redakteur Andreas Nitsch

Irgendwo in Belgien: Warme Sonnenstrahlen fallen durch die bunten bleiverglasten Fenster in die Kirche, die Tasten einer Orgel sind spärlich mit Staub bedeckt – wie auch die Besucherbänke mit den geschwungenen Armlehnen rechts und links in den Seitenschiffen. Der „Sucher“ (seinen richtigen Namen will er nicht nennen; das ist verpönt in der Szene) steht im Mittelgang und fotografiert: Deckengewölbe, die schon verblassenden Fresken im bröckelnden Putz, den gekreuzigten Jesus Christus an dem von der Decke hängenden großen Kreuz. Die Dunkelheit ist kein Problem. „Wir machen alles mit Stativ und Langzeitbelichtung“, verrät er. Eine Taschenlampe zum Ausleuchten reicht. Niemand gebietet ihm Einhalt, wie es sonst in Gotteshäusern der Fall ist. Der „Sucher“ genießt jeden einzelnen Druck auf den Auslöser.

Sakralgebäude sucht der Urbexer, der sich selbst als Ruinenschleicher bezeichnet, am liebsten auf. Fast 300 Kilometer ist der Mann aus der Nähe von Mainz gefahren, um den langsamen Verfall dieses verlassenen Sakralgebäudes zu dokumentieren – und die Kraft der Natur, die sich Stück für Stück des einst aufwendig bebauten Geländes nun wieder zurückerobert.

In einem Bauernhaus liegen alte „Stern“-Ausgaben auf einem Tisch.

Diese Kristallglasbläserei hat ihre besten Zeiten längst hinter sich.

Das Château Lumière steht unscheinbar inmitten 
eines kleinen Dorfes in Frankreich.

Knapp 20 Trabis, Wartburgs und Traktoren rosten in zwei alten Treibhäusern im Osten vor sich hin.

Inmitten einer mittelgroßen belgischen Stadt steht dieses ehemalige Kino. Im Vorführgerät ist sogar noch ein Filmstreifen eingelegt.

Diese Schlafstube gehört zu einer alten Mühle, die in einem kleinen Dorf kurz hinter der Grenze zu Luxemburg zu finden ist.

privat

Ausrangierte Wagen einer Straßenbahn sowie zahlreiche historische Busse sind in einem Tunnel in Frankreich untergestellt.

privat

Stillleben mit Kinderfoto, Plastikrosen und Ölgemälde

privat

In einer Scheune in Luxemburg, die zu einem Privatwohnhaus gehört, steht dieser Grabstein.

Nicht etwa nur der Kick, der Adrenalinausstoß, ist es, der die Urbexer in dunkle Kellergewölbe, in fast zerfallene Industrieanlagen oder tief hinab in die Kanalisation führt – von den Gefahren ganz zu schweigen: Bauwerke könnten einstürzen, unter jedem morschen Brett lauert ein Abgrund, Gasbildung und nicht isolierte Stromquellen sind ebenfalls nicht selten. Dies alles nimmt der „Sucher“ in Kauf. „Für die meisten Urban Explorer liegt die Motivation neben der Entdeckung und der Dokumentation der Objekte in der Ästhetik und Romantik, die diese Orte verströmen“, sagt er. Das Erleben einer authentisch-historischen Atmosphäre – das ist es, was ihn immer wieder an- und hinaustreibt. Die Geschichte einer jeden Örtlichkeit ist für ihn beinahe schon mit den Händen spürbar. Zurückgelassene Gegenstände lassen erahnen, wie sich das Leben dort früher abgespielt haben muss: ein Nachttopf unter einem zerwühlten Bett, ein 13 mal 18 Zentimeter großes Foto an der Wand, das eine schon ältere Missionarin in Afrika zeigt, ein schwerer Herd aus Gusseisen, auf dem zwei matt glänzende Töpfe stehen.

Die Explorerszene entstand vermutlich vor 30 Jahren in Australien und in den USA. 1986 gründete sich die Gruppe Cave Clan. Ihre Mitglieder kundschafteten vor allem die Kanalisation Melbournes aus. Geht es nach Jeff Chapmann alias Ninjalicious, dem weltweit wohl bekanntesten Urbexer, ist Philibert Aspairt der wahre Begründer des Urban Explorings. Der Franzose war während der Französischen Revolution Türsteher in einem Krankenhaus. Er entdeckte 1793 in dem Hospital einen geheimnisvollen Treppenabgang, stieg in die Pariser Katakomben hinab, verirrte sich und starb. Seine Leiche wurde erst elf Jahre später gefunden.

Neu ist das Erkunden schwer zugänglicher Orte allerdings keineswegs. Welches Kind, welcher Jugendliche hat sich nicht einmal in einer alten Ziegelei, einer verlassenen Kaserne oder in einem alten Fabrikgebäude herumgetrieben? Neu ist nur, dass heute alles ungezählte Male fotografiert und in den meisten Fällen auf Szeneseiten im Internet und in sozialen Netzwerken wie Facebook verbreitet wird – und dies unter dem englischen Begriff Urban Exploring.

Seit knapp vier Jahren geht der Urbexer aus dem Großraum Mainz auf Entdeckungsreise. Die Suche nach Lost Places, nach verlorenen Orten, fasziniert ihn. Über sein Hobby Geocaching – eine Schatzsuche mit GPS-Geräten – ist der „Sucher“ auf das Urban Exploring gestoßen. Seitdem lässt es ihn nicht mehr los – die Kamera ist stets dabei. Zehntausende Fotos hat auch er bereits gemacht, bearbeitet, geordnet und archiviert. Und jedes dieser Bilder erzählt seine eigene Geschichte. Es sind Geschichten von Freude oder Trauer, Hoffnung oder Resignation, Zufriedenheit oder Wut. Da ist etwa die Justizvollzugsanstalt Nord. Nach gut 120 Jahren hat das Gefängnis in Nordrhein-Westfalen ausgedient. Wie viele Menschen dort eingesperrt waren, aus welchem Grund und wie lange – der „Sucher“ weiß es nicht. Aber er spürt die Traurigkeit, die Verzweiflung und die Ohnmacht, die von diesem Ort ausgehen.

Wann das Gebäude der Abrissbirne zum Opfer fallen wird, steht noch nicht fest. Der „Sucher“ ist dort, als noch keine Metalldiebe oder Kabelratten auf der Jagd nach verwertbarem Material alles auf den Kopf stellen. Er fotografiert die kargen, beinahe noch intakten Zellen, eine Toilette darin mit hochgeklapptem Klodeckel, die Orgel in der Gefängniskapelle. Im Innenhof, in dem die Haftinsassen ihre täglichen Runden drehten, blüht der Ginster, das aus Eisenketten gefertigte Netz des Basketballkorbs wiegt leicht hin und her – wie ein Windspiel. Dem „Sucher“ gelingen in dem Knast, in dem die letzte Hinrichtung Deutschlands stattgefunden haben soll, fantastische Aufnahmen. Auf einem Bild wächst das Gras durch die modrigen Holzplanken von Bänken, „Dinge von großer Bedeutung sollen gelassen angegangen werden“ steht auf einem anderen Bild in großen Lettern an einer Zellenwand. Und immer wieder macht er Fotos von gerolltem Stacheldraht mit rasiermesserscharfen Klingen, der die endlos wirkenden Gefängnismauern zu einem scheinbar unüberwindbaren Hindernis macht.

Aber nur scheinbar unüberwindbar, denn die Urbexer haben längst einen, wenn auch beschwerlichen, Weg hineingefunden. Angaben zu diesen Wegen in eine Örtlichkeit oder auf ein Gelände werden überhaupt nicht oder nur selten an Gleichgesinnte weitergegeben – an die Öffentlichkeit schon gar nicht. „Nur so kann die morbide Schönheit einzelner Objekte noch etwas länger erhalten werden“, erklärt der „Sucher“. Bei der ehemaligen JVA Nord ist dieses hehre Ziel offenbar verfehlt worden. „Irgendjemand hat in einem Forum etwas zu viel verraten, und schon sind Randalierer, Metall- und Kabeldiebe angerückt.“ Das Resultat macht unter Urban Explorern schnell die Runde: Die meisten Wände sind mit Graffiti besprüht, verwertbare Utensilien wurden herausgerissen und abtransportiert, in der Gefängniskapelle liegen die meist zerstörten Orgelpfeifen auf dem Boden verteilt.

Zerstörung oder Diebstahl sind für Urbexer indes tabu. Doch auch schon das Betreten vieler Lost Places ist nicht legal. Streng genommen, handelt es sich hierbei um Hausfriedensbruch. Zumindest theoretisch müssen Urban Explorer mit einer Geld- oder gar Freiheitsstrafe rechnen. Doch die Polizei ermittelt nur, wenn vom Eigentümer Anzeige erstattet wird. Dies aber passiert im Grunde nie. Geradezu absurd erscheint da eine Begebenheit, die dem „Sucher“ in Belgien widerfahren ist. In einer größeren Stadt gibt es einen Lost Place, der genau neben einer Polizeiwache liegt. Der „Sucher“ hatte sich zunächst gar nicht getraut, nach einem Zugang zu suchen. „Doch dann hat mir ein hilfsbereiter Polizist den Weg gezeigt“, erzählt er.

Aber es läuft nicht immer so glimpflich ab. Der Urban Explorer berichtet von aufgebrachten Förstern, einem nervösen Wachschutz oder hysterischen Grundstücksbesitzern. Mehrmals muss er seine Personalien preisgeben, einige Male wird er fotografiert, Folgen hat dies bislang nicht. Viel wichtiger ist es für die Ruinenschleicher, niemals allein auf Tour zu gehen. „Man muss nur irgendwo umknicken, und unter Umständen liegt man in einem Kellerverlies und kommt nicht mehr heraus.“ Der „Sucher“ kam bisher immer wieder heil heraus – ob aus einer ehemaligen Klinik in Bad Münster am Stein-Ebernburg, seinem ersten Objekt überhaupt („Da war die Adrenalinausschüttung noch enorm, und mein Herz schlug bis zum Hals“) oder aus der Bergwerksgrube im östlichen Rheinland-Pfalz, die ihn immer wieder aufs Neue anzieht („Dort kenne ich mich aus wie in meiner Westentasche“) – auch wenn sie größtenteils schon abgerissen wurde. Welches die für ihn bisher beeindruckendste Örtlichkeit war, kann der „Sucher“ nicht sagen. „Man denkt jedes Mal, genialer kann es nicht werden, und dann entdeckt man einen noch schöneren, noch geheimnisvolleren und noch spannenderen Ort.“

Das Urban Exploring lässt den „Sucher“ auch im Alltag nicht los. Wenn er mit dem Auto unterwegs ist, scannt er regelrecht mit einem Auge die Landschaft, bei jeder Fahrt durch ein Dorf oder eine Stadt hält er Ausschau nach typischen Merkmalen. „Man bekommt einen Blick dafür“, sagt er. Verwilderte Vorgärten, geschlossene Fensterläden, deren Farbe abblättert, oder Massen von Werbeblättchen vor der Haustür können ein Indiz für eine verlassene Örtlichkeit sein – und somit für ein neues Ziel. Erst vor wenigen Wochen hat der „Sucher“ ganz in der Nähe seines Wohnortes ein verlassenes Bauernhaus entdeckt, in dem offenbar drei Generationen unter einem Dach gewohnt haben. „Dort steht alles noch so, wie es vor Jahren verlassen wurde“, verrät er. „Nur drei Leute wissen darüber Bescheid. Und das soll auch so bleiben.“

Wann der Urbexer aus der Nähe von Mainz seine nächste Entdeckungstour unternimmt, weiß er nicht. „So etwas wird nicht geplant. Das kommt ganz spontan“, betont er. Aber sicher wird es nicht lange dauern, und der „Sucher“ wird wieder durch kaputte Fenster klettern, durch enge Löcher, dunkle Schächte und vergessene Tunnel kriechen.

Ehrenkodex der Urbexer

Einen festen Kodex beachten Urban Explorer. Zu ist zu und bleibt auch zu. Das heißt: Urbexer zwingen sich durch das engste Loch, aber sie verschaffen sich nicht gewaltsam Zutritt zu Objekten. Vandalismus ist tabu. Es ist egal, wie heruntergekommen ein Gebäude bereits ist, es wird nichts beschädigt oder zerstört. Urbexer sind keine Diebe. Urbex bedeutet in erster Linie Dokumentation, Abenteuer und Reiz am Unbekannten. Es ist zur Erhaltung des Status quo eines Lost Place unerlässlich, dass alles so hinterlassen wird, wie man es vorgefunden hat. Alle Gegenstände bleiben an ihren Plätzen. Informationen sind wertvoll. Jeder Urbexer, der einen Ort beziehungsweise einen Zugang zu einer Örtlichkeit gefunden hat, hat das Recht zu entscheiden, was mit diesen Informationen geschieht. Es gibt keinen Anspruch darauf, dass ein Urbexer verrät, wo sich ein Ort befindet oder wie man ihn betreten kann.
„Nimm nichts mit außer deinen Bildern. Hinterlasse nichts außer Fußspuren.“