Notaufnahmen quellen über: Bagatellfälle bringen Krankenhäuser in Bedrängnis

Foto: Sascha Ditscher

Die Wartezimmer in den rheinland-pfälzischen Notaufnahmen quellen über. Neben Patienten, die akut Hilfe brauchen, sitzen immer häufiger auch sogenannte Bagatellfälle. Das bringt die Krankenhäuser in massive Bedrängnis. Woran krankt das System?

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Vom verdrehten Knie bis zur Blutuntersuchung: In den Notaufnahmen des Landes herrscht Hochbetrieb – bis zur Belastungsgrenze.
Vom verdrehten Knie bis zur Blutuntersuchung: In den Notaufnahmen des Landes herrscht Hochbetrieb – bis zur Belastungsgrenze.
Foto: Sascha Ditscher
Die Zeiger der Uhr in der Hachenburger Notaufnahme drehen ruhig ihre Runden. Das Ticken bildet zusammen mit Mausklicken und Tastenklappern die monotone Geräuschkulisse für einen ruhigen Nachmittag. Die dreiköpfige Belegschaft hat Zeit für den Papierkram. Noch.

„So ab halb sechs geht es los“, sagt der diensthabende Pfleger am heutigen Mittwoch. Eigentlich sollte die Notaufnahme allein die Notversorgung der Bevölkerung sicherstellen. Eigentlich sollte der Patient bei nicht eindeutigen Notfällen den Hausarzt konsultieren, der dann über das weitere Vorgehen entscheidet. Eigentlich sollten die Facharztpraxen spezielle Notfälle mit abdecken können. Eigentlich. Die Realität sieht anders aus.

Die Deutschen sind Meister im Zum-Arzt-Gehen. Im Durchschnitt werden sie laut Kassenärztlicher Vereinigung 17-mal im Jahr vorstellig. Dabei nehmen sie auch die Notaufnahmen der Krankenhäuser immer häufiger in Anspruch. Diese stellen einen steten Anstieg der Patientenzahlen fest. Das hat verschiedene Gründe. Einerseits kommen Menschen in die Notaufnahme, weil sie in einer tatsächlichen Notlage sind. Zumindest schätzen sie ihre Verletzung oder ihr Leiden selbst so ein. Sie kommen mit Hundebissen, verdrehten Knien, Schnittverletzungen oder Atemnot. Dann führt eines zum anderen: Der Patient wird von den Pflegekräften aufgenommen, vom Arzt untersucht, Röntgen, Labor hinzugezogen und eine mögliche stationäre Aufnahme oder direkte Entlassung mit anschließender Therapie abgewogen.

Die Zahl der Notfälle schwankt von Region zu Region stark. Der Verbund Altenkirchen/Hachenburg zum Beispiel versorgte 2015 circa 10.300 Fälle.
Die Zahl der Notfälle schwankt von Region zu Region stark. Der Verbund Altenkirchen/Hachenburg zum Beispiel versorgte 2015 circa 10.300 Fälle.
Foto: Sascha Ditscher
Zwischen diesen tatsächlichen Notfällen sitzen aber auch jene, die seit ein paar Tagen Zahnschmerzen haben, von einer Zecke gestochen wurden oder sich vormittags bei der Arbeit verletzt haben und nach Feierabend einen Arzt draufschauen lassen wollen. So wie ein Handwerker in der Hachenburger Notaufnahme. Er tritt gegen 18 Uhr an die Aufnahmetheke und erzählt, er habe starke Rückenschmerzen. Früher zu kommen, sei leider nicht drin gewesen, er konnte nicht von der Arbeit weg, erklärt er. „Das ist ganz normal“, winkt der Pfleger ab. „Die Menschen haben tagsüber keine Zeit und kommen zum Feierabend als Notfall zu uns.“

Das bringt das Personal in der Notaufnahme in eine Zwickmühle. Denn einerseits soll jeder, der dort vorstellig wird, von einem Arzt angeschaut werden – allein schon aus Gründen der Haftung. Andererseits ist das ein klassischer Fall für den Hausarzt, der nach einer Begutachtung entscheiden kann, bei welchem Facharzt sein Patient am besten weiterversorgt werden kann. Für die Zeit außerhalb der haus- oder fachärztlichen Öffnungszeiten hat die Kassenärztliche Vereinigung die sogenannten Bereitschaftsdienstzentralen (BDZ) eingerichtet.

Zentralen wenig bekannt

Die Idee dazu entstand, als es zunehmend schwierig wurde, einen Notdienst unter den ansässigen Hausärzten zu organisieren. Mit insgesamt 48 Standorten in Rheinland-Pfalz, die meisten angegliedert an Krankenhäuser, soll die gesamte Bevölkerung des Landes abgedeckt werden. Die BDZs ersetzen seit Juni das alte Notdienstsystem der Hausarztpraxen. Doch die Zentralen haben ein Problem: Viele Patienten wissen nichts davon. Oder sie finden die Notaufnahme schneller. Eigentlich sollten die ankommenden Patienten direkt zur BDZ auf dem Krankenhausgelände geleitet werden. Sollten – denn im DRK-Krankenhaus Hachenburg zum Beispiel zeigt sich, wie problematisch die nachträgliche Einrichtung einer BDZ in einem Altbau ist. Die Patienten müssen sich durch lange Flure schlängeln, Stockwerke wechseln. Das erschwert den Weg und erleichtert jenen in die gut erreichbare Notaufnahme.

Diese wird im Laufe des Mittwochabends immer voller. Der diensthabende Arzt und sein Team haben alle Hände voll zu tun und eilen von Behandlungsraum zu Behandlungsraum. Manche Patienten werden schon ungeduldig, müssen warten. Das senkt die Stimmung. „Uns ist schon klar, dass das Leid jedes Einzelnen in dem Moment das größte ist“, erklärt ein Oberarzt. „Doch die Patienten müssen auch sehen, dass nebenan vielleicht gerade einer um sein Leben kämpft und sie deswegen mit ihrer Schnittverletzung an der Hand warten müssen.“ Besonders die Schwestern und Pfleger müssen immer wieder mit Menschen diskutieren, die nicht verstehen, warum jetzt schon der dritte Patient an ihnen vorbeigeschoben wurde.

Dann schwindet die Geduld. „Wir arbeiten nach dem Triage-System, um die Fälle einzuschätzen, nicht chronologisch“, erklärt eine Schwester. Das Manchester-Triage-System ist ein standardisiertes Verfahren zur Ersteinschätzung in der Notaufnahme. Zur Beurteilung werden Symptome wie Schmerzen, Blutverlust, Bewusstsein oder auch Krankheitsdauer hinzugezogen, daraus ergeben sich Einstufungen von „sofort zu behandeln“ über „dringend“ bis hin zu „normal“ oder „nicht dringend“. So können tatsächliche Notfälle erkannt und schnell behandelt werden.

Jeder Handgriff zählt, um die Notfallversorgung im DRK-Krankenhaus Altenkirchen sicherzustellen.
Jeder Handgriff zählt, um die Notfallversorgung im DRK-Krankenhaus Altenkirchen sicherzustellen.
Foto: Sascha Ditscher

Seit Jahren beobachten Ärzte und Pfleger jedoch, dass immer mehr sogenannte Bagatellfälle in die Notaufnahmen kommen. „Mittlerweile ist die Zahl gravierend. Ich schätze so um die 80 Prozent, die eigentlich keine Notfälle sind, kommen zu uns“, urteilt der diensthabende Oberarzt. Dabei hat er in seinen mehr als 30 Dienstjahren schon viel gesehen. Der traurige Höhepunkt ist ein Mann gewesen, der sich als Notfall ausgab, um an schnelle MRT-Bilder für seinen Orthopäden zu kommen. Auch Dr. Thorsten Junckermann, Mitglied der Geschäftsführung der Kreuznacher Diakonie, spricht von einer durchaus relevanten Personenzahl. Das Problem liegt seiner Ansicht nach auch an den Wartezeiten für die Fachärzte. „Wenn einer monatelang auf einen Termin beim Kardiologen oder Orthopäden warten muss, kommt der zu uns.

Wir sind deutlich schneller“, berichtet ein Hachenburger Oberarzt. Was die Patienten nicht wissen: Wenn sie die Notaufnahme während der ärztlichen Öffnungszeiten aufsuchen, hat die Klinik Probleme bei der Abrechnung, da sie in dieser Zeit „keine ambulante Notfallbehandlung außerhalb der besonderen Kompetenzen des Krankenhauses erbringen darf“, sagt Junckermann. Dazu zählen Fälle, die in dieser Zeit auch ein Facharzt, zum Beispiel ein Augen- oder Kinderarzt, behandeln könnte. Die Mediziner beobachten eine wachsende Vollkasko-Mentalität in der Bevölkerung. „Natürlich, die Patienten wissen nichts von dem komplizierten System dahinter, bekommen bei uns eine Rundumversorgung. Das ist aber nicht der Sinn einer Notaufnahme.“

Finanzielle Schwierigkeiten

Besagte Vollkasko-Mentalität bringt die Krankenhäuser zunehmend in eine finanzielle Notlage. Denn sie müssen die Mannschaft in der Notaufnahme vorhalten, um auf Bedarfsspitzen vorbereitet zu sein. Für jeden behandelten Patienten zahlen die Krankenkassen den Krankenhäusern eine Kopfpauschale von circa 30 Euro. Doch sie dürfen auch Fälle ablehnen, die sie nicht als Notfall einstufen, dann gehen nur etwa 13 Euro an das Krankenhaus. Unter die Summe fallen auch die Bagatellfälle.

„Damit kommen wir schlicht und einfach nicht hin“, sagt Jürgen Ecker, Kaufmännischer Direktor der DRK-Krankenhäuser Hachenburg und Altenkirchen. „Wir rechnen uns erst ab circa 130 Euro pro Person. Dass das ein Minusgeschäft ist, ist doch klar.“ Anderseits sei die Notaufnahme auch eine Art Aushängeschild des Krankenhauses. „Die Notaufnahme ist der Erstkontakt zum Patienten. Wenn der sich hier schlecht aufgehoben fühlt, weil wir ihn in die Bereitschaftsdienstzentrale weiterschicken wollen, erzählt er das weiter. Das ist auch schlechte Werbung für uns. Wir sind schließlich auch ein Wirtschaftsunternehmen, das sich rentieren muss“, erläutert Ecker mit Sorge.

So stehen die Krankenhäuser vor einem schwer lösbaren Dilemma: Einerseits wollen sie mit den Bereitschaftsdienstzentralen zusammenarbeiten, sollen Patienten, die dort behandelt werden können, in die BDZ schicken. Andererseits rechnet sich nur ein gut gefülltes Wartezimmer – bis zur Belastungsgrenze und darüber hinaus.

Von unserer Reporterin Marta Fröhlich

Die Versorgung
Bereitschaftsdienstzentrale: Alle zugelassenen sowie niedergelassenen Ärzte – ob Haus- oder Facharzt – sind verpflichtet, am Bereitschaftsdienst teilzunehmen. Als Entgelt bekommen die Ärzte 50 Euro pro Stunde. Finanziert werden die Bereitschaftsdienstzentralen laut Kassenärztlicher Vereinigung durch eine verpflichtende Praxisabgabe in Höhe von 270 Euro monatlich.
Notfälle: Die Zahl der Notfälle schwankt von Region zu Region stark. Der Verbund Altenkirchen/Hachenburg zum Beispiel versorgte 2015 circa 10 300 Fälle. Deutschlandweit kommen jedes Jahr 20 Millionen Menschen in die Notaufnahme. Das Forschungsinstitut Aqua schätzt, dass etwa zwei Drittel davon auch vom Hausarzt versorgt werden könnten.