Berlin

Unerschrockene Piraten mischen Berlins Politik auf

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Während Wahlforscher den erstmaligen Einzug der jungen Piratenpartei in ein Länderparlament als Ausdruck des Protests vieler Wähler gegen die etablierten Parteien werten, herrscht bei den Piraten selbst Aufbruchstimmung. Sie sehen sich dort, wo die Grünen vor 30 Jahren standen:

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Berlin – Während Wahlforscher den erstmaligen Einzug der jungen Piratenpartei in ein Länderparlament als Ausdruck des Protests vieler Wähler gegen die etablierten Parteien werten, herrscht bei den Piraten selbst Aufbruchstimmung. Sie sehen sich dort, wo die Grünen vor 30 Jahren standen: Am Anfang einer neuen Bewegung, die mit einem Nischenprogramm beginnt, ihrer Zeit voraus ist, langfristig aber breite Wählerschichten ansprechen könnte. Wer sind die Piraten? Das Porträt einer Partei im Siegestaumel, die ihren programmatischen Kompass noch nicht gefunden hat.

Der 33-jährige Berliner Spitzenkandidat Andreas Baum steht am Wahlabend in T-Shirt und Jeans neben den Anzugträgern der anderen Parteien beim TV-Interview. Einen Anzug besitze er schon, den würde er aber nicht unbedingt im Abgeordnetenhaus tragen. Seine größte Blamage im Wahlkampf steckt der Pirat ganz selbstbewusst weg. Er hatte den Schuldenstand Berlins auf „viele Millionen“ geschätzt, in Wahrheit sind es sehr viele Milliarden.

Bei konkreten Fragen legt der kinderlose, unverheiratete Berater einer Internetfirma die Karten offen auf den Tisch. „Natürlich haben wir an manchen Stellen noch Wissenslücken und müssen uns noch weiterentwickeln“, sagt er. So viel Ehrlichkeit imponiert und kann für den Augenblick darüber hinwegtäuschen, dass es ein ernst zunehmendes Programm noch nicht gibt. Kernanliegen der Piraten ist die Netzpolitik, der freie Austausch von Wissen im Internet, die Gegnerschaft zur Vorratsdatenspeicherung.

Mit diesem Nischenprogramm hat sich die Partei im September 2006 in Deutschland gegründet. Heute hat sie 12 000 Mitglieder, in Berlin sind es nach eigenen Angaben etwa 1000. Hier hat die junge Partei – das Durchschnittsalter liegt bei 31 Jahren – sich inzwischen auch auf andere Themenfelder vorgewagt. In der Schule soll es „Rauschmittelkunde“ als Fach geben, höchstens 15 Schüler sollen in einer Klasse sitzen, ein bedingungsloses Grundeinkommen soll es für jeden geben, freien Internetzugang für alle sowieso. Wie all das bezahlt werden soll, lassen die Piraten offen. Bei den etablierten Parteien reagiert man teils mit Empörung auf das Votum von 8,9 Prozent für die junge Partei. „Die haben doch einen Knall“, wettert der Rheinland-Pfälzer Peter Bleser (CDU), Staatssekretär im Bundesagrarministerium.

In Berlin allerdings haben sie gerade wegen ihres unprofessionellen, frischen Auftretens gepunktet. Wähler, die den etablierten, bürgerlichen Parteien skeptisch gegenüberstehen, gibt es hier viele. Und das Versprechen der Piraten, einen neuen Politikstil zu pflegen – sie wollen via Internet mehr Mitsprache und mehr Transparenz herbeiführen – hat die überzeugt, die sich bei den Grünen und den Linken nicht mehr zu Hause fühlen. Ein bundespolitischer Aufwind für die Piraten ist daran noch nicht abzulesen. Auch wenn man das bei der Wahlparty der Piraten in einem Kreuzberger Szeneklub gern glauben machen wollte.

Disco statt Bürgerhaus, Spontaneität statt gestanztem Politikersprech hieß dort das Programm. Was Journalisten und andere Neugierige bei deren Party zu sehen und zu hören bekamen, war tatsächlich eine Neuerscheinung im Politikbetrieb, die außerhalb Berlins eher schwer vorstellbar ist.

Spärlich beleuchtete Räume, Elektro-Beats, ein Ü-Wagen mit Laptops. Das Smartphone gehört hier zur Standardausrüstung. Außerdem sind die meisten Piraten jung – und männlich. Eine einzige Frau wird mit den 15 Kandidaten ins Abgeordnetenhaus einziehen.

Auch Blogger Sascha Lobo ist unter den Feiernden. „Das Netz kann eine neue Plattform für mehr Demokratie sein“, sagt er. Dafür müssten die Piraten sich nun dramatisch schnell professionalisieren. „Ich glaube, dass sie das schaffen“, meint Lobo. Die noch unbeantwortete Frage bleibt allerdings, ob die Piraten das überhaupt wollen.

Von unserer Berliner Korrespondentin Rena Lehmann