Brüssel

Türkei: Europas Drohungen bleiben noch ohne Folgen

Die Meinungen sind geteilt. Hier protestieren Türken in Berlin, die den Putschversuch in ihrem Herkunftsland verurteilen.
Die Meinungen sind geteilt. Hier protestieren Türken in Berlin, die den Putschversuch in ihrem Herkunftsland verurteilen. Foto: dpa

Die Bilanz der vergangenen Tage ist erschreckend: Listen im Internet zufolge hat die türkische Führung bis zum 21. Juli 65 449 Menschen festnehmen lassen, von ihrem Job suspendiert oder gleich rausgeworfen – Rechtsanwälte, Lehrer, Beamte, Journalisten und sogar Polizisten. Außerdem wurde der Ausnahmezustand verhängt und die EU-Charta der Menschenrechte in wichtigen Teilen ausgesetzt.

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Von unserem Brüsseler Korrespondenten Detlef Drewes

Doch noch immer belässt es die Europäische Union bei verbalen Drohungen ohne politische Konsequenz. Zwar mehren sich inzwischen Forderungen wie die des Europa-Abgeordneten Arne Gericke (Familien-Partei), der das Aussetzen der Menschenrechtskonvention mit den Worten kommentierte: „Das ist eine unmissverständliche Aufkündigung einer gemeinsamen Wertebasis mit der EU – und kann nicht folgenlos bleiben.“

Im Vorfeld der Sommerpause aller Institutionen, die Ende kommender Woche beginnt, schweigt Brüssel aber weitgehend, wo sonst längst der Ruf nach einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs ertönt wäre. Mehr oder minder ungerührt von den Ereignissen in der Türkei werden sogar die politischen Initiativen von der Vorbereitung der Visumfreiheit bis hin zu den wieder angelaufenen Beitrittsgesprächen fortgeführt – oder zumindest nicht offiziell infrage gestellt.

Das bestätigte die EU-Kommission am Freitag sogar ausdrücklich. Dabei drängt sich ein Problem immer mehr auf: „Die Türkei ist kein sicherer Rechtsstaat“, betonte die Chefin der Grünenfraktion in der EU-Volksvertretung, Rebecca Harms, gegenüber unserer Zeitung. Mehr noch: „Wir werden bald vielen Bürgern der Türkei Asyl gewähren müssen.“ Auch der Vizepräsident der europäischen Volksvertretung, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), meinte auf Anfrage: „Nach allem, was da jetzt passiert ist, müssen wir sehen, dass das Land nicht mehr sicher ist und ich will nicht ausschließen, dass wir künftig Personen haben, die mit Recht auf Asyl pochen, weil sie politisch verfolgt werden.“

Tatsächlich basiert der Flüchtlingsdeal mit Ankara, den die EU im März geschlossen hatte, zu einem erheblichen Teil auf einer Zusage der türkischen Regierung, die internationalen Regelungen zum Flüchtlingsschutz der Genfer Konvention einzuhalten. Nur deshalb bewegte sich die EU auf dem Boden internationalen Rechts, als sie vereinbarte, Migranten in Griechenland wieder in die Türkei zurückschicken zu können. Doch die Zweifel wachsen, ob das Land am Bosporus noch garantieren will, was für eine solche Vereinbarung notwendig ist: etwa die Beachtung der Menschenrechte.

„Nach deutschem Recht ist die Türkei kein sicherer Drittstaat“, stellte der CSU-Europa-Abgeordnete Markus Ferber gegenüber unserer Zeitung klar. „Auf europäischer Ebene gibt es nur einen Vorschlag, sichere Drittstaaten einheitlich zu definieren. Bisher geht man davon aus, dass die Türkei dabei ist. Es ist aber wohl damit zu rechnen, dass die Kommission ihren Vorschlag vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse noch einmal überarbeitet.“

Doch die EU-Behörde hält sich bislang zurück, weil man weiß, in welchem Dilemma die Europäer stecken. Noch hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den Flüchtlingsdeal nicht angefasst. Es könnte aber eine Situation entstehen, in der die EU eine Verletzung der Abmachungen feststellen muss. Das wäre das Ende der erst vor wenigen Monaten besiegelten engeren Zusammenarbeit.

Von einem Beitritt Ankaras zur EU spricht ohnehin längst niemand mehr. Dass die Frage gelöst werden muss, sieht selbst der sonst eher zurückhaltende Chef der christdemokratischen Mehrheitsfraktion im EU-Parlament, Manfred Weber, so. Er warnte zwar davor, „das Abkommen infrage zu stellen“. Aber auch er meinte, dass man „nach dieser aktuellen Phase das Verhältnis zur Türkei neu ordnen“ müsse.