Bonn

Sankt Martin ist entzaubert

Sankt Martin ist entzaubert Foto: dpa

Es geht knapp aus. Schmerzhaft knapp. Am Ende eines denkwürdigen Sonntags in Bonn stimmt eine magere Mehrheit von Genossen für Koalitionsverhandlungen mit der Union. Ein großer Sieg ist das nun wirklich nicht für SPD-Chef Martin Schulz und die Führungsriege der Partei.

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Es wird eher zu einer fast demütigenden Verhinderung einer desaströsen Niederlage. Martin Schulz tritt um kurz vor 12 in der Bonner Kongresshalle auf die Bühne, leicht angeschlagen, etwas heiser. Was folgt, ist der einstündige Versuch, seine Partei einzufangen. Er appelliert an den Stolz der Genossen, an ihren demokratischen Anspruch, an ihren Gestaltungswillen und immer wieder an ihr Verantwortungsbewusstsein. Er ätzt gegen „Jamaika“, er bemüht den Glanz der Mächtigen aus der Nachbarschaft („Macron hat mich gestern angerufen“). Doch richtig leidenschaftlich wirkt er nicht. Den Saal begeistern kann Schulz nicht.Martin Schulz nimmt die gesamte Parteispitze mit in die Pflicht

Der SPD-Chef rattert die Sondierungsergebnisse mit der Union runter: Gesundheit, Rente, Bildung, Europa. Und nennt dabei immer jene SPD-Sondierer, die diese Dinge mit ausgehandelt haben: Olaf Scholz, Andrea Nahles, Ralf Stegner, Manuela Schwesig etwa. Er nennt sie einzeln, laut und deutlich. Schulz' Botschaft: Ich habe das Ganze nicht allein zu verantworten. Immer wenn Schulz einen der Sondierer nennt, werden sie auf den großen Leinwänden in der Halle eingeblendet. Da sind in Großaufnahme angespannte Gesichter zu sehen. Die Spitzengenossen wissen, was Schulz' Aufzählung bedeutet: Stürzt er, stürzen auch sie – alle, die so vehement für Koalitionsverhandlungen geworben haben.

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Schulz mahnt, alles in den Sondierungen Vereinbarte komme nur, wenn die SPD weiter verhandelt. Es gehe darum, etwas zu erreichen für Pflegebedürftige, Rentner, Alleinerziehende und Angestellte. „Das sind die Menschen, die sich auf uns verlassen“, ruft er. „In meinen Augen wäre es fahrlässig, diese Chance jetzt nicht zu ergreifen.“ Es gehe auch nicht nur um Koalitionsverhandlungen, sondern um den weiteren Weg Deutschlands und Europas.

Schulz verspricht, die Erneuerung der Partei werde in einer Regierung nicht hinten runterfallen, sondern Priorität haben. Und er kündigt an, in Koalitionsverhandlungen noch etwas herauszuholen: eine Härtefallregelung beim Familiennachzug und etwas mehr Gleichstellung von gesetzlich und privat Krankenversicherten. Auch das Thema sachgrundlose Befristung bei Arbeitsverträgen will er bei Verhandlungen mit der Union „wieder aufrufen“.

Diese Versprechen gibt Schulz indes nicht ganz freiwillig. Die mächtige SPD Nordrhein-Westfalens forderte in einem Antragsentwurf weitere Verhandlungen an diesen drei Punkten und setzte die Parteispitze so unter Zugzwang. Über Nacht wurde gehandelt und gefeilscht, bis die Parteispitze am Sonntag einen erweiterten Leitantrag mit den Wünschen aus den Ländern vorlegt – allerdings deutlich abgeschwächt. Die Forderungen klingen darin eher wie Arbeitsaufträge als rote Linien.

Doch der Applaus für Schulz bleibt am Ende verhalten, eine Minute klatschen die Delegierten nach der Rede. Jubel und Rausch um den 100-Prozent-Vorsitzenden aus dem vergangenen Frühjahr – all das scheint endlos weit weg.

Nach Schulz spricht der Anführer der Anti-GroKo-Bewegung: Juso-Chef Kevin Kühnert. Der 28-Jährige ist ein talentierter Redner. Und auch diesmal redet er Schulz in Grund und Boden. Moderat im Ton, gewandt, schlagfertig und gewitzt appelliert er an die Partei, sich neu zu erfinden und aus dem Würgegriff der Union zu befreien. Die Hassfigur der Genossen, CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, hatte mit Blick auf die Jusos und Kühnert über einen „Zwergenaufstand“ bei der SPD gespottet. Kühnert kontert: „Heute einmal ein Zwerg sein, um zukünftig vielleicht wieder Riesen sein zu können.“ Johlen im Saal.

Sonderparteitag wird zum Duell zwischen Promis und Basis

In der Debatte muss die gesamte Führungsriege ran. Einer nach dem anderen wirbt, mahnt, fleht. Die Botschaften sind immer gleich: Die Erneuerung der SPD wird trotzdem kommen – versprochen. Minderheitsregierung und andere Modelle sind eine Illusion. Und: Denkt an die Folgen, wenn wir Nein sagen. Die GroKo-Kritiker halten dagegen. Promis gegen Basis also. Mittendrin hält Andrea Nahles die Rede, die manche von Schulz erwartet hätten. Die Fraktionschefin brüllt sich ihre Stimme aus dem Leib. Es könne nicht sein, dass die SPD nur noch mitregiere, wenn sie absolute Mehrheiten habe oder in einem illusorischen Linksbündnis regiere. „Das ist Blödsinn, verdammt noch mal.“ Nahles räumt Fehler ein. In der jüngsten GroKo sei einiges nicht gut gelaufen, die SPD habe auch kommunikative Fehler gemacht. „Aber was um alles in der Welt hat das mit der Merkel, dem blöden Dobrindt und den anderen zu tun? Das ist ausschließlich unser Problem, das wir lösen müssen. Und zwar jetzt.“ Viel Applaus.

Schulz dürfte gemerkt haben, dass der Funke bei ihm nicht übergesprungen ist. Kurz vor der Abstimmung geht er noch mal auf die Bühne. „Ja, man muss nicht um jeden Preis regieren, das ist richtig“, sagt er. „Aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.“ Er bittet noch mal um ein Ja – „von ganzem Herzen und bei allem Respekt“. Wieder bleibt der Beifall eher pflichtbewusst.

Am Ende siegt die Disziplin. 362 von 642 Delegierten sagen Ja. 56 Prozent also. Eine denkbar dürftige Mehrheit. Da dürften die Koalitionsverhandlungen schwierig werden. Sein Rückhalt unter den Genossen ist seit dem Hype vom Frühjahr enorm geschwunden. Der Parteitag in Bonn ist da der vorläufige Tiefpunkt. Aus dem 100-Prozent-Vorsitzenden ist der 56-Prozent-Parteichef geworden, auch wenn das Schlimmste für Schulz vorerst abgewendet ist. Kanzlerin Angela Merkel kann ebenfalls aufatmen – aber nur kurz. Denn die SPD-Genossen können eine GroKo beim Mitgliederentscheid ganz am Ende immer noch stoppen. Und: Wie geschmeidig die Verhandlungen von Union und SPD angesichts der neuen Bedingungen laufen, muss sich zeigen. Von Aufbruchstimmung ist jedenfalls nichts zu spüren.

Von Christiane Jacke,
Teresa Dapp und Michael Fischer