Köln/Koblenz

Psychologe betont nach Berliner Anschlag: Zum Alltag zurückzukehren, ist überlebenswichtig

Nach dem Anschlag in Berlin trauern die Menschen.
Nach dem Anschlag in Berlin trauern die Menschen. Foto: dpa

Kaum einer kennt die Seele der Deutschen so gut wie der Kölner Psychologe und Autor Stephan Grünewald. Er ist Chef des Rheingold-Instituts für Marktforschung in Köln. Für unterschiedliche psychologische Studien befragt er jedes Jahr Hunderte Deutsche zu gesellschaftlichen Themen und ihren Erwartungen an die Zukunft. Nach dem Anschlag in Berlin haben wir ihn zur Angst der Deutschen vor Terror befragt.

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Der tödliche Angriff auf einem Weihnachtsmarkt hinterlasse in uns ein Gefühl der Ohnmacht, sagt Grünewald. Manche verwandelten diese Ohnmacht in Wut – andere in etwas Positives.

Es ist nur ein Eindruck, aber nach den fürchterlichen Ereignissen in Berlin haben viele Menschen um einiges ruhiger reagiert als zum Beispiel nach Nizza, München, Ansbach oder Würzburg. Ändert die latent immer vorhandene Bedrohungslage unser Angstempfinden und unser Verhalten?

Man kann schon sagen, dass die Ungeheuerlichkeiten, die uns vor einem Jahr noch vollkommen fassungslos gemacht haben, mittlerweile Teil unseres Alltags geworden sind. Wir hatten 2015 im November in Paris diese schrecklichen Vorfälle. Ich glaube, dass da viele mit einem mulmigen Gefühl auf die Weihnachtsmärkte gegangen sind. Damals war die Terrorgefahr viel präsenter. Dann hatten wir im Sommer eine relativ schnelle Aufeinanderfolge kleinerer Attacken. Die Lage hatte sich jetzt wieder beruhigt. Aber ich glaube, wir rechnen latent inzwischen eher damit, dass so etwas passieren kann, als noch vor ein, zwei Jahren.

Und entsprechend abgeklärt reagieren wir auch …

Abgeklärt ist das falsche Wort. Es ist eher so eine Art resignative Gewöhnung. Natürlich macht uns dann ein Anschlag wie der in Berlin doch wieder fassungslos. Wir fühlen uns ohnmächtig. In der ersten Zeit hofft man noch, dass es nicht so schlimm ist, dass es vielleicht nur ein Unfall ist. Erst dann erschließt sich einem das ganze Ausmaß der Katastrophe. Wir versuchen, an Informationen zu kommen. Das ist ein erster Schritt, die Fassung zurückzugewinnen. Aber wir machen das jetzt zum wiederholten Mal durch und haben entsprechende Mechanismen entwickelt, damit umzugehen.

Glauben Sie, dass viele auch Angst haben, ohne es so zu nennen? Zum Beispiel, indem sie auf Weihnachtsmärkte gehen und direkt abchecken, wo es größere Menschenansammlungen gibt oder mögliche Fluchtwege …

Das ist sicher nur in der ersten Zeit nach einem Anschlag so. Nach einem Terrorakt wie jetzt in Berlin sind viele von uns Tage, manchmal auch Wochen in erhöhter Alarmbereitschaft. Wir überlegen uns ganz genau, ob wir auf den Weihnachtsmarkt oder ins Stadion gehen. Wir checken ab, ob es Situationen gibt, von denen wir uns lieber fernhalten. Das ist aber ungeheuer anstrengend und nimmt uns auch die Lust am Erlebnis. Wir sind einfach so gestrickt, dass wir nach einer Zeit in unseren gewohnten Alltagstrott zurückgleiten. Das macht uns auch erst wieder genussfähig. Wir können ja einen Weihnachtsmarkt, ein Fußballspiel, ein Konzert nur genießen, wenn wir nicht permanent in Habachtstellung sind.

Verläuft unsere Angst also in Wellenbewegungen?

Ja. Das sind die Selbstheilungskräfte des Alltags. Wir Menschen sind da schon faszinierend. Nehmen wir das Beispiel Aleppo. Selbst da setzt nach verheerenden Bombennächten so etwas wie ein Alltagsleben ein. Es gibt Bilder, auf denen Kinder auf der Straße spielen. Oder Menschen Verkaufsstände aufbauen. Es ist überlebenswichtig, dass wir zum Alltag zurückkehren können und nicht in der Angststarre stecken bleiben.

Welche Strategien gegen die Angst gibt es noch?

Es gibt Leute, die sagen: Okay, jetzt erst recht, ich lasse mich nicht vom Terrorismus einschränken. Das ist aber ein demonstrativer Akt. Diese Menschen überspielen dann auch ein Stück weit ihre innere Unsicherheit. Dann gibt es die, die vorsichtig sind, die sich zurückziehen, weil sie sich ohnmächtig fühlen. Die Ohnmacht, die wir nach einem solchen Anschlag erleben, ist ja schwer auszuhalten. Wir können ihr nur wenig entgegensetzen. Es gibt deshalb auch die, die möglichst schnell aus dieser Ohnmacht heraus wollen, indem sie Schuldige benennen. Sie fühlen sich wieder handlungsfähig, wenn sie jetzt die Flüchtlinge oder die Flüchtlingspolitik verantwortlich machen. Sie haben das Gefühl, wenn die Politik anders handelt oder wir Frau Merkel abwählen, dann passiert uns nichts mehr. Das ist auch ein Versuch, Trauer und Ohnmacht in Wut zu verwandeln. Wut ist für uns besser aushaltbar, weil sie uns die Möglichkeit gibt, unsere Energie zu kanalisieren und wieder handlungsfähig zu sein. Aber das ist natürlich auch eine Illusion. Die verheerenden Anschläge in Frankreich zeigen ja, dass auch eine restriktive Flüchtlingspolitik Anschläge nicht verhindert. Das ist die traurige Lehre, die wir aus diesem Jahr ziehen: Der globale Terror ist auch in Deutschland angekommen. Und wir sind immer noch ratlos, wie wir damit umgehen sollen.

Wenn die größte Ratlosigkeit vorbei ist, lassen sich Angst und Wut auch in etwas Positives verwandeln?

Ja. Bei anderen Katastrophen, Hochwasser zum Beispiel, erleben wir es, dass wir als Gemeinschaft wieder näher zusammenrücken, den Wert des Lebens und des füreinander Einstehens erleben können. Auch der Terror kann uns wieder klarmachen, wie wichtig uns Freiheit, Offenheit, Lebensfreude und Mitmenschlichkeit sind. Dann beugen wir uns nicht dem Diktat des Terrors, sondern sind erst recht bereit, das Leben zu feiern.

Das Gespräch führte Angela Kauer