Brüssel/Berlin

Marc Schreiner: Der Mann, der gleich zwei Bomben entkam

Die erste Bombe am Brüsseler Flughafen explodiert, da ist er gerade mit der Morgenmaschine aus Berlin gelandet. Von der zweiten Bombe an der Metrostation Maelbeek erwischt ihn noch die Druckwelle, dann begibt er sich er in den Untergrund, um anderen zu helfen. Seit Dienstag kann Marc Schreiner jedes Jahr am 22. März seinen zweiten Geburtstag feiern.

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Von unserem Redakteur Dominic Schreiner

Wie so oft in den vergangenen Jahren hatte der 41-Jährige, der in Mainz geboren wurde und aufgewachsen ist, am Dienstag seinen Arbeitstag in der deutschen Hauptstadt um 5.30 Uhr mit einer Taxifahrt an den Flughafen Tegel begonnen, wo er um 6.40 Uhr den frühen Flieger nach Brüssel nahm. Für Schreiner, Jurist und Vertreter eines bundesdeutschen Verbands mit Sitz in Berlin, gehört das zur normalen Arbeitsroutine: In Berlin Pläne schmieden und Strategien entwickeln, in Brüssel auf europäischer Ebene Interessen vertreten.

Mehrere Hundert Male dürfte er mittlerweile ohne jegliche außergewöhnliche Vorkommnisse in Brüssel-Zaventem gelandet sein. Als er an diesem Dienstag kurz vor 8 Uhr am Flughafengebäude ankommt, lässt die Wucht einer Detonation den Bau aus Beton, Stahl und Glas erbeben – der erste Bombenanschlag, den der 41-Jährige an diesem Tag miterleben muss und bei dem mindestens 13 Menschen sterben.

Hunderte kommen ihm in Panik im Terminal entgegengelaufen

Schreiner betritt das Terminal A und versucht, zum Ausgang zu kommen. Er ahnt, dass gleich Chaos ausbrechen wird und will sich diesem durch schnelles Handeln entziehen. „Ich war auf dem Laufband unterwegs. Da kamen auf einmal erst kleinere Gruppen und Sekunden später Hunderte Menschen in Panik auf mich zu“, schildert Schreiner. Ein Mitarbeiter des Flughafensicherheitsdienstes ruft „lauft, lauft“.

Schreiner, der sich am Flughafen dank seiner häufigen Besuche bestens auskennt, setzt seinen Weg fort. Im Vorübereilen schnappt er noch einen Satz auf: „Es gab eine Bombe“, stammelt jemand. Der Jurist eilt trotzdem weiter, kommt durch die Halle mit der Gepäckausgabe, in der sich sonst Menschen um die Bänder drängen und die jetzt bis auf zwei Personen leer ist. „Venez vite – kommen sie schnell her“, ruft ihm ein Polizist vom Ende des Zollbereichs zu. Dann begleitet er Schreiner in Richtung Busterminal durch das apokalyptisch anmutende Chaos, das der Anblick der Abflughalle bietet. Die Fenster sind geborsten, Deckenplatten liegen am Boden, herrenlos gewordene Gepäckstücke stehen überall herum, Rauch schränkt die Sicht ein. „Als ich das gesehen habe, wurde mir zum ersten Mal halbwegs bewusst, dass da etwas besonders Schreckliches passiert sein muss.“ Richtig greifen kann Schreiner die Situation zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dann greift er zum Telefon und ruft seine Frau in Berlin an. „Ich weiß nicht, was hier los ist“, gibt er ihr durch und läuft zu Fuß zum Autobahnzubringer.

Er ist noch keine 200 Meter weit gekommen, da sieht er ein freies Taxi. Er kann sein Glück kaum fassen, hält es an, springt rein und gibt dem Fahrer die Adresse, wo er hin muss, weil er an diesem Morgen in Brüssel eigentlich an einer Konferenz zum Thema E-Health teilnehmen muss. Sie soll stattfinden im Thon Hotel EU, Rue de la Loi im Zentrum von Brüssel – und keine 30 Meter Luftlinie von der Metrostation Maelbeek entfernt. Auf der etwa 30-minütigen Fahrt dorthin steht sein Telefon nicht mehr still. Seine Frau, seine Familie, Freunde und Kollegen, alle haben mitbekommen, dass in Brüssel am Flughafen eine Bombe hochgegangen ist, alle wollen wissen, ob es ihm gut geht, alle bitten ihn, auf sich aufzupassen.

„Zu diesem Zeitpunkt war ich gedanklich trotz allem Erlebten noch in meinem ursprünglich vorgesehenen Tagesablauf gefangen. Das hat mir Orientierung gegeben“, schildert Schreiner. Und doch macht sich in ihm auch ein Gedanke breit: Wie komme ich hier schnellstmöglich weg? Dann fährt das Taxi unweit seines Ziels in einen kleinen Stau auf einer Abbiegerspur direkt vor der Metrostation Maelbeek. „Ich steige dann hier aus“, sagt Schreiner, zahlt und verlässt das Taxi. In diesem Moment geht die zweite Bombe in die Luft.

Druckwelle der zweiten Bombe am Körper gespürt

Sie reißt mindestens 28 Menschen in den Tod. „Der Boden unter meinen Füßen hat vibriert, und ich habe die Druckwelle am Körper gespürt“, erzählt der 41-Jährige. Aus dem Eingang zur Metrostation in nur zehn Metern Entfernung steigt schnell schwarzer Rauch auf, bald schon taumeln die ersten Passagiere ins Freie, über und über mit Ruß bedeckt, apathisch. Die, die auf der Straße gestanden haben, rennen weg und bringen sich in Sicherheit. Schreiner nicht.

„Ich habe in dem Moment die Schreie aus der Station gehört und mir dann gedacht: ,Du musst jetzt helfen'“, sagt er. Wieder klingelt sein Telefon, einer seiner Brüder ist am anderen Ende der Leitung in Deutschland. Schreiner nimmt das Gespräch an, sagt gedankenverloren ein paar Worte. Dann schaltet er das Kameralicht an seinem Smartphone ein – ohne das Gespräch zu beenden – und betritt den Vorraum der Station. „Da war es schwarz vor Rauch und Ruß, es stank bestialisch“, erklärt der Jurist. Und in diesem Moment beginnt der blanke Horror.

Schwerverletzte taumeln durch die Finsternis, die, die unmittelbar von dem Anschlag betroffen waren, versuchen jetzt, sich ins Freie zu retten. „Come to the Light – kommt zum Licht“, ruft Schreiner den Orientierungslosen entgegen, und „Here ist the Exit“. Währenddessen klebt sein Bruder starr vor Entsetzen am anderen Ende der Leitung und hört minutenlang alles mit. Dann bricht das Mobilfunknetz in der Brüsseler City zusammen und die Verbindung reißt ab.

Dieses Foto verwendete die Berliner Morgenpost als Titelfoto. Marc Schreiner (im beigefarbenen Mantel stehend im Hintergrund) ist hier gerade im Austausch mit einem anderen Helfer. Foto: Marti JN Doolaard/APN Photo.
Dieses Foto verwendete die Berliner Morgenpost als Titelfoto. Marc Schreiner (im beigefarbenen Mantel stehend im Hintergrund) ist hier gerade im Austausch mit einem anderen Helfer.
Foto: Marti JN Doolaard/APN Photo.

„Irgendwann kam dann keiner mehr“, erzählt Schreiner weiter, „ich hatte einigen geleuchtet und ein paar andere nach draußen geführt. Dann habe ich mich erneut überwunden und bin noch ein Stockwerk tiefer zum Tunnel mit den Gleisen“. Die Angst begleitet ihn auf seinem Weg die Stufen runter, ihm ist klar, dass bei Terroranschlägen nicht selten zeitversetzt eine zweite Bombe am selben Ort hochgeht, um Ersthelfer zu töten.

Als er im Tunnel ankommt, gibt es außer ihm nur Schwerverletzte, wird ihm erstmalig das Ausmaß des Anschlags allmählich bewusst. Vor ihm am Boden liegt eine Frau in ihrem eigenen Blut, ihr Kopf verunstaltet von einer klaffenden Wunde. Sie greift nach seiner Hand, er berührt sie an der Schulter, redet beruhigend auf sie ein. „Und in etwa fünf Metern Entfernung war das Loch, das die Detonation in den Wagen gerissen hatte. Ich habe nur ein Bein gesehen, das da herausragte“, sagt Schreiner leise. Wie lange es dauerte, bis die ersten Rettungskräfte an diesem rußgeschwärzten Ort des Grauens eintreffen, kann der 41-Jährige nicht einschätzen. „Ich befand mich in einem zeitlosen Raum.“

Doch als die Profis endlich da sind, verlässt er den Tunnel und schaut noch kurz nach den Verletzten, die mittlerweile auf der Straße versorgt werden. Dann geht er – benommen – zu Fuß in sein gut ein Kilometer entferntes Büro. Dort fühlt er sich zum ersten Mal seit Stunden in Sicherheit. Und beginnt zu realisieren, welchem Wahn er gerade entkommen ist. Ein Freund aus Brüssel, auch Deutscher, lässt alles stehen und liegen, als Schreiner ihn anruft und um Hilfe bittet. Er holt ihn ab, nimmt ihn mit nach Hause, wo Schreiner duscht, sich vom Ruß und dem hartnäckig anhaftenden Gestank des Terrors befreit. Dann fährt ihn sein Freund schnell aus der Stadt raus und über die belgisch-niederländische Grenze nach Düsseldorf – gerade noch rechtzeitig, bevor Polizei und das Militär den Verkehr in Belgien lahmlegen. Schreiner nimmt den nächsten Flieger, den er bekommen kann, um 18 Uhr ist er wieder in Berlin, bei seiner Familie. Und noch ein wenig mehr in Sicherheit.

Ein Rahmen, an dem man sich abarbeiten kann

Am Mittwoch sitzt Schreiner wieder in seinem Berliner Büro. „Ich brauchte am Tag nach diesen Erlebnissen einen Rahmen, an dem ich mich abarbeiten kann“, sagt Schreiner. Und abarbeiten muss er sich an einem Treffen in Sachen Gesundheitspolitik, an dem am 5. und 6. April hochrangige Politiker teilnehmen. Bis dahin bleibt ihm aber auch Zeit, sich etwas mit seinem Trauma, das er am Dienstag erleiden musste, auseinanderzusetzen. Mittwochnachmittag besuchte ihn daher auch gleich ein Traumaspezialist der Bundesregierung und zeigte ihm Wege auf, mit den schlimmen Bildern in seinem Kopf umzugehen. Dann stürzte sich Schreiner wieder in die Vorbereitung des Treffens. Es findet in Brüssel statt.

Ohnmacht am Telefon: RZ-Redakteur musste mithören

Marc Schreiner ist der Bruder von RZ-Redakteur Dominic Schreiner. Letzterer war es auch, der am Telefon mithören musste, wie sich sein vier Jahre jüngerer Bruder Hunderte Kilometer entfernt von ihm durch das tödliche Chaos an der Metrostation Maelbeek im Herzen von Brüssel kämpfte, um anderen zu helfen. „Come to the Light – kommt zum Licht“ – diese Wörter haben sich tief in die Erinnerung unseres Redakteurs – dem in dieser Situation nichts anderes übrig blieb, als seinen Bruder gewähren lassen zu müssen – gefressen. Angst um das Leben des Bruders, die Ohnmacht, ihm nicht zur Seite stehen zu können, und der Kollaps des Mobilfunknetzes in Brüssel, der dazu führte, dass Marc Schreiner direkt nach dem Telefonat aus der zerbombten Metrostation für die Dauer von rund einer Stunde nicht mehr zu erreichen war: Auch das wird die Erinnerungen unseres Redakteurs an den 22. März 2016 nachhaltig prägen.