Hilflos: Brüssel hat seit Langem ein Problem mit Kriminalität

Das Bild ist so grausam, dass es nur schwer auszuhalten ist: Mitten in der gesprengten Abflughalle des Brüsseler Flughafens liegt ein Mann, die Bombe des Attentäters hat ihm beide Beine abgerissen. Er schreit, während Ersthelfer ihn zu versorgen versuchen. „Irgendwann wurde das Schreien leiser und verstummte schließlich“, erzählt einer der hilflosen Retter später.

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Von unserem Korrespondenten Detlef Drewes

Ist es das, was die Terroristen erreichen wollten? Mitten in den Straßen einer europäischen Millionenstadt kriechen verängstigte Menschen über den Gehweg, drücken sich an Hauswände, laufen um ihr Leben. Warum? Die Einwohner und Besucher, die Angehörigen und ihre Opfer haben am Tag der Anschläge, der sich in die Köpfe und in die Stadtgeschichte einprägen wird, noch keine Zeit, dieser Frage nachzugehen. Rache ist der erste Gedanke. Eine Machtdemonstration jener Leute, die der erst wenige Tage zuvor verhaftete Paris-Attentäter Salah Abdeslam um sich geschart hatte?

Hauptstadt der Kriminalität

„Wir können noch nichts sagen“, erklärt der leitende Generalstaatsanwalt Frédérick van Leeuw am späten Vormittag. Für ihn steht zu diesem Zeitpunkt nur fest, dass es sich um Terrorakte handelte. Es ist eine seltsame Hilflosigkeit, die die Brüsseler Behörden ausstrahlen. Noch am Montag konnte van Leeuw vom Erfolg der Verhaftung Abdeslams berichten. Einen Tag später scheinen die Terroristen zu triumphieren und alle Vorwürfe an die Polizei zu bestätigen. Brüssel gilt schon seit Langem als unsicheres Pflaster. Nach den Pariser Anschlägen gingen in Molenbeek, das als „Dschihad City“ verunglimpft wird, Polizisten von Haus zu Haus, um überhaupt erst einmal festzustellen, wer wo lebt.

„Es gibt keine Bundes- oder Landespolizei, nur städtische Strukturen“, schimpft der Europa-Abgeordnete Markus Ferber (CSU), der an diesem Dienstagmorgen von München nach Brüssel fliegen wollte. Seine Maschine wäre wohl genau zu dem Zeitpunkt gelandet, als die Bomben in der Abflughalle des Brüsseler Flughafens Zaventem explodierten.

Die Hauptstadtregion Brüssel ist ein kompliziertes politisches Gebilde: Die wallonische und die flämische Sprachengemeinschaft treffen hier aufeinander. 19 Gemeinden, sechs Polizeidistrikte, ein Oberbürgermeister für alle. Ständig agieren Räte und Abgeordnetenvertretungen unterschiedlicher politischer Ebenen gegeneinander.

Seit Jahren führt Brüssel die europäische Liste mit den meisten Einbrüchen, Überfällen und Eigentumsdelikten wie Raub an. Doch Reformen blieben bislang immer stecken. Seit den Pariser Anschlägen patrouillieren 300 Soldaten in den Straßen, kontrollieren die Eingänge zu wichtigen Gebäuden wie dem europäischen Parlament, der EU-Kommission, den Sitzen der belgischen Regierung. An die Lebensadern dieser Stadt wie die Metro hatte niemand gedacht. An diesem Dienstag zerreißt eine Bombe an der Station Maelbeek einen ganzen Zug, Überlebende hasten durch verrauchte Tunnel.

Es sind Bilder wie im Krieg. Wenig später nutzt der belgische Premierminister Charles Michel genau dieses Wort: „Wir befinden uns im Krieg.“ Brüssel steht nun mit Istanbul, Madrid, London und Paris in einer Reihe. Wie lange wird es dauern, bis die Behörden den Menschen wieder so viel Vertrauen zurückgegeben haben, dass sie sich aus ihren Häusern, auf den Weg zur Arbeit oder in die Metro trauen? In Belgien haben die Osterferien bereits angefangen. Am Tag der Anschläge wollten viele belgische Familien in den Urlaub fliegen.

Die Täter zielten auf das europäische Machtzentrum, wo EU und Nato ihren Hauptsitz haben. Und sie schlugen dort zu, wo europäische Politik gemacht wird – der Sprengsatz in der Metro ging nur einen Steinwurf weit von dem Gebäude entfernt hoch, in dem noch am vergangenen Freitag die Staats- und Regierungschefs der EU zusammensaßen. Unfassbar? Undenkbar? Nun nicht mehr. Das ist die Botschaft der Terroristen: Wir können, wenn wir wollen, Europa ins Herz treffen.

Die politischen Analytiker haben Belgien immer wieder als Zentrum des Terrors gebrandmarkt – wegen seiner besonderen Lage im Zentrum der EU, wegen seiner politischen Machtfülle, wegen der weitreichenden Macht der europäischen Institutionen. Ein Anschlag auf diesen Mittelpunkt der EU würde alle Staaten irgendwie treffen, so lautete die These.

Brüssels Parallelgesellschaften

Der Nährboden dazu passte: Brüssels Problem sind die beiden Parallelgesellschaften aus öffentlichen Mandatsträgern und hochrangigen Diplomaten einerseits und verarmten Bevölkerungsschichten mit vielen Zuwanderern andererseits. Anwerber des Islamischen Staates (IS) konnten hier jahrelang unter jungen Menschen ohne Perspektive Nachwuchs für den Dschihad rekrutieren. Dem Ruf folgten fast 1000 junge unzufriedene Menschen, heißt es. „Sharia4Belgium“ hieß die Organisation mit fast 50 Mitgliedern, die mehrere 100 Kämpfer rekrutierte, ehe sie zerschlagen und ihre Mitglieder verurteilt wurden. Der Prozess vor zwei Jahren belegte in allen Einzelheiten, woran es Belgien mangelt, warum junge Menschen anfällig für radikale Ideen werden. Rückschlüsse zogen nur wenige.

Als am Dienstagmittag sogar die königliche Familie aus dem Stadtschloss in Sicherheit gebracht wird, ist die Nation getroffen. Etwas Vergleichbares geschah zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Belgien erlebte einen der schwärzesten Tage seiner Geschichte. Und das Land weiß noch nicht, wie es wieder zur Normalität zurückfinden kann.