Brüssel

Analyse: Europa hat es noch nicht geschafft

Die Kanzlerin bleibt in der Flüchtlingsfrage optimistisch. Foto: dpa
Die Kanzlerin bleibt in der Flüchtlingsfrage optimistisch. Foto: dpa

Es dauerte gut sechs Monate, bis Angela Merkel sich auch auf europäischer Ebene zuversichtlich zeigen mochte und ihrem berühmten deutschen Satz „Wir schaffen das“ eine EU-Variante („Europa schafft das“) hinzufügen konnte.

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Von unserem Brüsseler Korrespondenten Detlef Drewes

Tatsächlich war dieser 18. März 2016 ein denkwürdiger Tag. Eben erst hatten die Staats- und Regierungschefs der EU gegen den massiven Widerstand zahlreicher Kritiker einen Pakt mit der Türkei geschlossen: schärfere Grenzkontrollen und Rücknahme von in Griechenland gestrandeten Flüchtlingen gegen visumfreie Einreise, 6 Milliarden Euro zur Versorgung der Flüchtlinge und eine Neuauflage der Beitrittsgespräche. Die Bundeskanzlerin konnte zufrieden sein, sah doch alles danach aus, dass nur wenige Wochen nach dem Versiegen des Flüchtlingsstroms über die Balkanroute auch der Weg über die Türkei nur noch für vorher kontrollierte Zuwanderer frei sein würde. Nur zwei Tage später trat das Abkommen in Kraft, die Flucht in Richtung griechische Mittelmeerinseln ließ tatsächlich nach, dafür verlagerten die Schlepper ihre Schmuggelroute. Ergebnis: Während bei den Hellenen mehrere Tausend Flüchtlinge strandeten, weil sie weder vor noch zurück konnten und Lager wie in Idomeni im Morast versanken, schwoll der Zustrom in Richtung Italien an. Und das auch noch auf höchst perfide Weise: Die Menschenhändler setzten möglichst viele Syrer, Eritreer oder Afghanen in Schlauchboote, gaben ihnen genau so viel Benzin mit, dass sie die internationalen Gewässer vor Libyen erreichten. Dort sollten sie einen Notruf an die EU-Marinemission „Sophia“ absetzen, um planmäßig und wie vorgesehen aus Seenot gerettet zu werden.

Europa blieb nicht tatenlos

Europa verharrte nicht tatenlos. Dieser Eindruck ist im Rückblick auf das zurückliegende „Wir schaffen das“-Jahr falsch. Binnen weniger Wochen stampfte die Union einen Plan zur Verstärkung der Grenzschutzagentur Frontex aus dem Boden, paukte ihn durchs Parlament sowie die zuständigen Gremien und hat nun sogar die Zusage von den Mitgliedstaaten, zusätzliche Sicherheitsbeamte dorthin zu schicken, wo die Grenzkontrollen und die Erfassung der Fliehenden lückenhaft sind. Die Kommission präsentierte gar einen Ersatz für das de facto pulverisierte bisherige Dublin-System, gemäß dem ein Flüchtling dort registriert und aufgenommen werden muss, wo er seinen Fuß auf europäischen Boden setzt. Künftig sollen EU-Behörden die Aufnahmerituale der Mitgliedstaaten übernehmen und die Asylberechtigten verteilen – nach festen Quoten. Das Konzept war so ambitioniert, dass es zunächst scheiterte. Bis heute.

Erst in der Vorwoche musste sich Merkel bei ihrer Rundreise durch die besonders kritischen östlichen EU-Staaten anhören, man könne „keinem System zustimmen, das auf verpflichtende Quoten zur Umverteilung von Flüchtlingen besteht“, so der tschechische Ministerpräsident Bohuslav Sobotka. Und der gilt noch als Merkel-Freund. Ungarns Premier Viktor Orbán, der sich im Oktober bei einem Referendum die Rückendeckung seiner Bevölkerung für die Ablehnung der Merkel’schen Flüchtlingspolitik holen will, baute erst einen Zaun und plant derzeit einen Wall, um sein Land abzuschotten. Weil, wie er mehrfach bei Brüssel-Besuchen betonte, er ja rechtlich verpflichtet sei, die unkontrollierte Zureise über die EU-Außengrenze strikt zu überwachen. Tatsächlich fällt es schwer, ihm da zu widersprechen. Dublin war das Versprechen an die Bürger, die Freiheit nach innen durch den Schutz der Grenzen nach außen zu erkaufen. Beides misslang. Und das lag nicht zuletzt an der Bundeskanzlerin, die die Dubliner Regeln als „obsolet“ bezeichnete – was in der Realität das Gleiche bedeutete wie „tot“.

Angst vor der Welle

Dublin war abgeschaltet worden, Schengen auch. Aus Angst vor einer unkontrollierbaren Welle illegaler Zuwanderer führten die EU-Staaten gleich reihenweise wieder Grenzkontrollen ein. Denn Europa hatte neben den ungelösten Problemen durch die Flüchtlinge die andere Seite der Medaille bitter zu spüren bekommen: den Terror. Nach den Anschlägen in Paris mit 130 Toten, den Attentaten in Brüssel mit 32 Toten und den eskalierten Silvesterfeiern in Köln und an anderen Stellen mit massenhafter sexueller Belästigung von Frauen schwenkte die Stimmung vollends auf die Frage um, wie sich die Gemeinschaft vor denen schützen könne, die friedliche und verzweifelte Asylberechtigte als Trojanisches Pferd nutzten, um nach Europa einzureisen.

Aus dem „Wir schaffen das“ war in der EU ein verzweifelter Kampf gegen die brutale Gewalt geworden, auch wenn zahlreiche Institutionen immer wieder darauf verwiesen, dass die Gewalttäter nur einen minimalen Bruchteil der Einreisenden stellten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sprach von gerade mal 17 Anhängern der Terrormiliz Islamischer Staat, die im Schutz von Millionen Flüchtlingen in die EU gekommen seien. Der Hinweis mag richtig und notwendig sein, hilfreich ist er nicht. Zu vielen Wirrköpfen reicht, dass Terroristen unter den Flüchtlingen waren, um selbst Gewalt zu initiieren. Nicht nur in Deutschland eskalierte die Zahl rechtsextremer Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte oder Einrichtungen für Zuwanderer. Und wo nicht brutal attackiert wurde, radikalisierte sich zuerst die Sprache der Gegner von Merkels Asylpolitik.

Europa hat es noch nicht geschafft. Aber das liegt nicht an den Mitgliedstaaten oder der EU, sondern an der internationalen Diplomatie, die die Konflikte und damit die Ursachen der Flucht bisher nicht entschärfen konnte. Dass die USA sich jetzt bereit erklärt haben, 10 000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen, darf als ein wichtiges Zeichen gewertet werden. Aber es bleibt eben leider nur ein Einzelfall. Ob Europa es schafft oder schaffen kann?