Stuttgart/Madrid

Stuttgart21-Gegner springen auf Protestzug in Spanien

Ein Demonstrant filmt die Proteste in Madrid und hat an seinem Computer einen Zettel mit der Adresse des Kanals im Netz. Die Reporter aus dem Kreis der S21-Gegner haben nun eine Seite angelegt, die die Videos aus Spanien bündeln soll.
Ein Demonstrant filmt die Proteste in Madrid und hat an seinem Computer einen Zettel mit der Adresse des Kanals im Netz. Die Reporter aus dem Kreis der S21-Gegner haben nun eine Seite angelegt, die die Videos aus Spanien bündeln soll. Foto: Stephane M Grueso

Spanien protestiert – und Stuttgart21-Gegner helfen mit ihren Erfahrungen bei der Verbreitung. Dahinter steckt auch viel Unzufriedenheit mit den herkömmlichen Medien.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Stuttgart/Madrid – Spanien protestiert – und Stuttgart21-Gegner helfen mit ihren Erfahrungen bei der Verbreitung. Dahinter steckt auch viel Unzufriedenheit mit den herkömmlichen Medien.

Zehntausende Menschen auf der Straße – das gibt es oft in vielen Teilen der Welt, und meist nimmt die deutsche Öffentlichkeit davon keine Notiz. Gerade haben aber Proteste in Spanien von der Twittergemeinde das Siegel „spanishrevolution“ bekommen – und der Unmut ist groß, dass die deutschen Medien sich bisher nicht darauf gestürzt haben. „Es ist etwas, was nach unseren Eindrücken wächst, es scheint so, dass die gebildete Bürgerschaft aufsteht“, sagt Tobias Raff, eines der gut ein Dutzend Mitglieder von Cams21.

Erstmals waren am Sonntag in ganz Spanien Zehntausende auf die Straßen und Plätze gegangen – ohne, dass eine Partei oder Gewerkschaft aufegrufen hatte,
Erstmals waren am Sonntag in ganz Spanien Zehntausende auf die Straßen und Plätze gegangen – ohne, dass eine Partei oder Gewerkschaft aufegrufen hatte,
Foto: Stephane M. Grueso

Die Gegenöffentlichkeit mit den Ziffern 0034

Jede Demonstration, jede Infoveranstaltung übertragen Cams21-Reporter direkt ins Netz, wurden so zu den „Volksreportern“ und Galionsfiguren einer Gegenöffentlichkeit, die nach eigenem Verständnis auf die herkömmlichen Medien nicht angewiesen ist. Am Dienstagabend haben sie auch die Plattform für die Live-Bilder der Proteste in Spanien geschaffen. Cams21 bringt Cams34 auf die Bildschirme, die 34 steht für die Ländervorwahl Spaniens, die 0034.

„Beide Themen haben ähnliche Anliegen“, erklärt Raff (36) dies, selbst Kandidat für den Landesvorsitz der Piraten in Baden-Württemberg. „Es geht um Demokratie, Freiheit – und darum, Informationen davon zu vermitteln, die man sonst nicht erhält – das Volksreporterprinzip, das Geschehen ungeschnitten zu zeigen.“

In Spanien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 40 Prozent, in Spanien lahmt die Konjunktur, in Spanien stehen Regional- und Kommunalwahlen an, und auf den Listen finden sich mehr als 100 Kandidaten, die mehr oder weniger eindeutig mit Korruption in Verbindung gebracht werden. Es gibt viele Frustrierte in Spanien, wo auch von der „Generacion ni ni“ gesprochen wird: von der Generation, die weder studiert noch arbeitet.

Von den großen Parteien verkauft

Das ist abschätzig gemeint, aber es wird nun auch zur trotzigen Protesterklärung: Weder die Volkspartei PP noch die Sozialisten der PSOE werden sie wählen, weil sie sich von den beiden großen Parteien verkauft fühlen. Es ist eine Gemengelage, die die Menschen auf die Straße treibt. Am Sonntag waren es erstmals mehrere Zehntausend, für den Mittwoch war in allen Städten Spaniens zu Protesten aufgerufen.

Ihr Schlachtruf ist zugleich Name eines Zusammenschlusses von 200 Initiativen: „Echte Demokratie jetzt“, „Democracia real ya!“ Die Facebook-Seite der Bewegung hatte am Mittwochabend fast 120.000 Mitglieder und wuchs rapide. Über Facebook, Twitter und Blogs organisierte sich der Protest auch. „Die gleichen Anfänge gab es in den arabischen Staaten auch“, sagt Tobias Raff.

Solche Vergleiche stoßen aber auf Twitter auch auf Unverständnis und Protest, werden als Herabwürdigung des Aufstands der Menschen gesehen, die gegen unterdrückerische Regime auf die Straße gegangen sind. „Warum“, entgegnet da Rafael Wefers Verástegui, Halbspanier, der nach Studium in Bonn nach Spanien gegangen ist, dort bei einer Autovermietung arbeitet und bei Twitter so etwas wie der Draht zwischen Deutschland und Spanien ist.

„Die Wahl zwischen Pest und Cholera“

Wefers Verástegui holt dann aus: „Weil Spanien nominell eine Demokratie ist und wir zwischen Pest und Cholera wählen dürfen? Weil hier “nur„ 123 Politiker auf den Wahllisten vorgeworfen wird, korrupt zu sein und nicht allen? Weil man hier nicht von der Polizei zusammengeprügelt wird, wenigstens nicht allzu oft?“

Wefers Verástegui war der erste, der versuchte, interessierten Deutschen die Hintergründe zu erklären, „Neutral“ sei er sicher nicht, „aber ich versuche, alle Infos durch mindestens drei Quellen zu belegen.“ Ein hoher journalistischer Anspruch. Seinen Blog und seine Twitternachrichten ergänzen etwa Twitterer wie @noxforu oder @muschelschloss, die unermüdlich das Netz nach jedem Text und jedem Videostreifen zu dem Thema scannen und es dann in ihren Accounts kanalisieren.

Als Cams34 am Netz war, haben sie es auch direkt weiterverbreitet. Raff hatte zunächst die Idee getwittert, von Deutschland aus zu helfen – und Wefers Verástegui bot sich auch umgehend mit seinen Kontakten in Spanien an. Nach anderthalb Stunden war die Seite am Netz, weniger Minuten danach kamen erste Links zur Videos. Doch so richtig klar ist noch nicht, ob die Spanier diese Hilfe aus Deutschland auch rege annehmen.

Blindheit der Medien

Und was, wenn die Revolution doch keine ist und keine wird? Wenn es nicht „seltsam“ ist, dass die Medien in Deutschland kaum berichten, wie der Branchendienst meedia in einem Text „Spanien und die Blindheit der Medien“ meint?

Tobias Raff glaubt es zwar nicht, aber er hat den Gedanken im Kalkül, dass es das schon gewesen sein könnte, dass der Protest wieder schnell abebbt. Er sagt: „Wir wollten früh dabei sein und nicht erst aufspringen, wenn der Zug volle Fahrt aufgenommen hat. Wenn es im Sande verläuft, haben wir eine Sache mit hehren Zielen unterstützt.“

Lars Wienand

Update: Inzwischen gibt es auch eine deutsche Facebook-Seite „Echte Demokratie jetzt“ zur Unterstützung der Proteste in Spanien und eine Bewegung „Italian Revolution