Koblenz/Fluterschen

Missbrauchs-Prozess Fluterschen: So hielt Lügengebäude des Detlef S. – Jugendamt?

Rotes Sakko, bunte Krawatte: So kennt man Detlef S. (48) aus dem spektakulären Missbrauchsprozess vor dem Landgericht Koblenz. Bis zu seiner Verhaftung 2010 soll er jahrzehntelang seine Familie tyrannisiert haben.
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Rotes Sakko, bunte Krawatte: So kennt man Detlef S. (48) aus dem spektakulären Missbrauchsprozess vor dem Landgericht Koblenz. Bis zu seiner Verhaftung 2010 soll er jahrzehntelang seine Familie tyrannisiert haben. Foto: dpa

Seine Töchter zwang er zum Sex und verkaufte sie an fremde Männer. Seine Großfamilie soll er mit Faustschlägen und Peitschenhieben tyrannisiert haben. Inzwischen hat Detlef S. (48) aus Fluterschen im Westerwald ein Geständnis abgelegt. Er räumte vor dem Landgericht Koblenz 325 der 350 Anklagepunkte ein. Heute ist der vierte Prozesstag. Seine Frau (52) und drei Mitarbeiter vom Jugendamt des Kreises Altenkirchen sollen als Zeugen aussagen.

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Koblenz/Fluterschen. Seine Töchter zwang er zum Sex und verkaufte sie an fremde Männer. Seine Großfamilie soll er mit Faustschlägen und Peitschenhieben tyrannisiert haben.

Inzwischen hat Detlef S. (48) aus Fluterschen im Westerwald ein Geständnis abgelegt. Er räumte vor dem Landgericht Koblenz 325 der 350 Anklagepunkte ein. Heute ist der vierte Prozesstag. Seine Frau (52) und drei Mitarbeiter vom Jugendamt des Kreises Altenkirchen sollen als Zeugen aussagen.

Wie konnte S. seine Verbrechen jahrzehntelang vor der Öffentlichkeit verbergen?

Wieder großer Publikumsandrang auch am zweiten Tag des Missbrauchprozesses von Fluterschen im Koblenzer Landgericht. Doch bereits nach kurzer zeit wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen.

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Der Stiefsohn des Angeklagten Detlef S., Björn B. (Foto), sagte aus, ebenso wie die leibliche Tochter des 48-jährigen Familienvaters.

Jens Weber

Die Anwältin der Tochter

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Nach der Aussage der Tochter von Detlef S. dramatische Szenen im Landgericht Koblenz: Detlef S. hat dort die Taten an seiner heute 18-jährigen Tochter eingeräumt.

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Zuvor hatte er den Saal verlassen müssen.

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Staatsanwalt

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Detlef S. (2. v.r. ) im Gerichtssaal des Landgerichts Koblenz in der Anklagebank neben seinem Anwalt Thomas Düber (r). Während der Vorsitzende Richter Winfried Hetger (3. v.l. ) an seinem Platz steht. Der Angeklagte hat zugegeben, der Vater der sieben Kinder seiner Stieftochter zu sein.

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In 325 Fällen von 350 legte Detlef S. ein Teilgeständnis ab.

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Detlef S. hat vierzehn Kinder – vier mit seiner Frau, sieben mit seiner Adoptivtochter. Drei Kinder adoptierte er, sie stammen aus einer früheren Ehe seiner Frau. Er war Herrscher über einer Großfamilie. Wie konnte er seine Verbrechen jahrzehntelang vor der Öffentlichkeit verbergen? Mit brachialer Gewalt und infamen Lügen. Das hat der bisherige Prozess gezeigt. Seine Adoptivsöhne (29, 27) berichteten von regelmäßigen Peitschenhieben und 20 Zentimeter langen Striemen.

Aber erklären Gewalt und Psychodruck von Detlef S. allein das jahrzehntelange Martyrium der ganzen Familie S.? Was stand in den Akten des Jugendamtes Altenkirchen?

Reporter der Rhein-Zeitung gingen bereits vorher den Fragen nach, warum diese Kinder solange schweigen konnten. Warum kein Mensch vom Amt hinter die gewaltsam aufgerichtete Fassade in Fluterschen geblickt hat, blicken konnte.

Leidensgeschichte der Kinder auch eine Geschichte von fehlendem Vertrauen und verweigerter Hilfe?

Ist die Leidengeschichte der Stiefkinder und der leiblichen Kinder von Detlef S. auch eine Geschichte von fehlendem Vertrauen und verweigerter Hilfe gegenüber Schutzbedürftigen, eine Geschichte von mangelndem Zuhören und fehlendem Mitgefühl?

Adoptivsohn über Detlef S.: Kinder zu verdreschen hat ihn „richtig aufgegeilt“

Der ältere Stiefsohn sagte über Detlef S.: „Ich würde ihn nicht als Menschen bezeichnen, sondern als Diktator.“ Seine Kinder zu verdreschen, habe ihn „richtig aufgegeilt“. Detlef S. soll sich seine Peitsche selbst gebaut haben – aus einem Stock und einem Lederschulranzen seiner Kinder.

Die Gewaltherrschaft funktionierte, weil Detlef S. seine Kinder jahrzehntelang zum Lügen zwang. Vor allem Adoptivtochter Natascha (27), mit der er zwischen 2000 und 2009 acht Kinder zeugte. Eines starb kurz nach der Geburt.

Bis 2010 hielt Natascha den Vater ihrer Kinder strikt geheim

Bis 2010 verriet Natascha niemandem, wer der Vater ihrer Kinder ist. Nicht ihren Geschwistern, nicht ihren Freundinnen. Den Jugendamtsmitarbeitern tischte sie abstruse Geschichten auf: Mal erzählte sie von Kindsvater „Fred“, den nie jemand zu Gesicht bekam. Mal berichtete sie von Westerwälder Dorfdiscos, von Sexabenteuern und von Männern, die sie nie wieder gesehen hat.

Kaum zu glauben: Jedes Mal wenn Natascha dem Jugendamt ihre Geschichten erzählte, saß neben ihr Detlef S. Er begleitete sie auch noch 2002 und 2003 – damals war sie bereits volljährig und der Verdacht, dass Detlef S. der Vater ihrer Kinder ist, längst bekannt. Beim Jugendamt hätten ob der Omnipräsenz von Detlef S. die Alarmglocken schrillen müssen. Doch dergleichen ist nicht bekannt.

Einträge zwischen 2003 und 2008 fehlen – Akte des Jugendamtes sorgt für Erstaunen

Zum Drama von Fluterschen legte das Altenkirchener Jugendamt eine Akte mit 150 Seiten an. Die aber sorgt für Erstaunen. Nach Informationen unserer Zeitung gibt es zwischen 2003 und 2008 keinen Eintrag – in dieser Zeit brachte Natascha vier Kinder zur Welt. Verwunderlich ist auch, dass Hebamme Gabriele Schulte unserer Zeitung sagte, sie habe 2001 wegen Nataschas „vaterloser“ Kinder mit dem damaligen Jugendamtsleiter gesprochen. Doch in der Akte findet sich dazu keinerlei Notiz.

1998 wäre das Schreckensregime des Detlef S. fast aufgeflogen. Damals hatte er seine nicht einmal 15 Jahre alten Adoptivkinder Björn und Natascha schon mehrfach misshandelt und missbraucht, so die Anklage. Doch all dies blieb geheim. Vieles deutet daraufhin, dass er die Kinder mit massivem Druck dazu zwang, ihre Vorwürfe gegen ihn zu widerrufen – und stattdessen groteske Märchen zu erzählen.

Zum Frühstück eine Faust ins Genick: „Ab jetzt bekommst Du das jeden Tag!“

Ein krasses Beispiel bietet der 6. Februar 1998. Der Tag aus Sicht des Onkels (48) der Kinder: Um 10.15 Uhr erhält er von Björn einen Anruf. Er holt ihn und Natascha an der Schule ab. Björn klagt über Schmerzen und Übelkeit. Er erzählt: Gestern schlug ihm Detlef S. einen Stock ins Kreuz, heute Morgen hämmerte er ihm beim Frühstück eine Faust ins Genick und sagte: „Du brauchst das! Ab jetzt bekommst Du das jeden Tag!“

Björn zeigt ein blutverschmiertes Unterhemd. Beide Kinder sagen, dass sie nicht mehr nach Hause wollen. Als der Junge kollabiert, bringt ihn ein Bekannter in die Klinik. Der Onkel zeigt Detlef S. wegen Kindesmisshandlung an. Drei Zeugen bestätigten seine Version des Tages.

Bei Aussage vor der Polizei war Detlef S. dabei

Ganz anders die Kinder: Natascha behauptet bei der Polizei, ihr Onkel habe sie entführt und mit Gewalt in sein Auto gezerrt – als sie das sagt, war ihr Stiefvater dabei. Ja, Björns T-Shirt sei blutig gewesen. Aber nicht weil er geschlagen wurde, sondern weil er sich einen Pickel auf der Nase aufgekratzt hatte. Björn bestätigt die Aussage.

Und er betont: Detlef S. schlage ihn nur, wenn er patzig würde. Nie grundlos, nie mit der Faust. Natascha und er hätten am Tag der „Entführung“ viel geweint, weil sie unbedingt heimwollten. So geschah es auch. Die Kinder kamen zurück nach Hause, zurück zu Detlef S. Die Anzeige des Onkels blieb erfolglos.

Kurz nach der „Entführung“ berichtet Björn bei der Polizei erneut von grundloser Gewalt durch Detlef S. Und er sagt: „Ich möchte lieber von heute auf morgen von zu Hause weg.“ Genutzt hat es nichts.

Von unserem Redakteur Hartmut Wagner