Schottland

Schottland: Wie der Schicksalsstein wieder nach Alba kam

Für den Mann, der 1950 den berühmten Stein des Schicksals von England zurück nach Schottland brachte, ist das Referendum am 18. September eine Herzenssache. "Ich liebe dieses Land", sagt Ian Hamilton, der seinen Diebstahl zusammen mit drei Helfern niemals bereut hat. Fotos: Maria Pakura
Für den Mann, der 1950 den berühmten Stein des Schicksals von England zurück nach Schottland brachte, ist das Referendum am 18. September eine Herzenssache. "Ich liebe dieses Land", sagt Ian Hamilton, der seinen Diebstahl zusammen mit drei Helfern niemals bereut hat. Fotos: Maria Pakura Foto: Maria Pakura

Am 18. September stimmen die Schotten über ihre Unabhängigkeit ab. Für Ian Hamilton ein besonderer Tag. Gerne erinnert er sich an seinen spektakulären „Diebstahl“, der den schottischen Schicksalsstein zurückbrachte.

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Von Maria Pakura

Mit einem Brecheisen hebeln drei junge Männer und eine Frau die Hintertür zu Westminster Abbey auf, während London schläft. Aus dem hölzernen Krönungsthron britischer Monarchen brechen sie ein Stück heraus, um an den rechteckigen Drei-Zentner-Klotz darunter zu kommen: den Stone of Scone, besser bekannt als Stone of Destiny (Stein des Schicksals). Auf ihm erhielten schottische Herrscher über Jahrhunderte ihre Macht, ihn nahm König Edward I. 1296 den Schotten weg, um deren Niederlage zu untermauern – und jetzt stehlen vier Studenten dieses Nationalsymbol, um es nach 654 Jahren zurück nach Hause zu bringen. Als am Morgen Radiosender berichten, der Stone of Destiny sei Dieben zum Opfer gefallen, strömen die Menschen in Schottland auf die Straßen, jubeln und fallen sich in die Arme: Ihnen ist klar, es kann nur einer von ihnen gewesen sein, und darauf sind sie stolz.

Das waren die Ereignisse der schneelosen Weihnachtsnacht 1950 in London. „Ich habe es nie bereut“, sagt heute Ian Hamilton, der diesen Rückklau erdacht und mit drei Kommilitonen umgesetzt hat. Doch die Tat wurde sein Stigma: Die einen feierten ihn als Helden, die anderen bezichtigten ihn einer Freveltat, „jeder aber assoziierte mich sofort mit dem Stein.“ Dass er eine Lawine von Nationalstolz und alten Autonomieträumen lostreten würde, hatte er allenfalls gehofft, aber nicht erwartet. 64 Jahre später allerdings, am 18. September 2014, stimmen die Schotten tatsächlich über ihre Unabhängigkeit ab. Auch Ian Hamilton.

Knappes Ja in Umfragen

„Vielleicht ist es eine Generation zu früh“, grübelt er. Dennoch hält er für möglich, dass Schottland Ja sagt, allen Zweifeln und von Unionisten als Angst-Argumente benutzten Unwägbarkeiten zum Trotz. Zuletzt lag das Ja in Umfragen erstmals knapp vorn. Das Referendum hat eine Massenbewegung ausgelöst. Vom Kind bis zum Greis nimmt jeder teil statt nur Anteil. Kundgebungen sind überlaufen, auf keinem Fest fehlen Informationsstände der Ja- und Nein-Kampagnen, im Pub, im Park, im Bus diskutieren die Menschen. Auch und besonders virtuell: „Es ist wohl das erste Mal in der Geschichte der Demokratie, dass gewöhnliche Bürger sich in diesem Umfang Gehör verschaffen“, sagt Hamilton. Der Jurist selbst hat sein AyePad, wie er es scherzhaft benannt hat – Aye ist das schottische Wort für Ja -, immer zur Hand, beobachtet das Netz, bringt sich ein. Und das, obwohl der Kronanwalt im Ruhestand fünf Tage vor dem Referendum seinen 89. Geburtstag feiert. Soziale Netzwerke als „größte Untergrundbewegung, die ich mir vorstellen kann“, scheint dem viel belesenen Mann ein gutes Mittel, um Politikverdrossenheit entgegenzuwirken und von der Basis aus Veränderungen anzustoßen. Die Lust darauf ist in Schottland unübersehbar.

„Für mich ist das Referendum Herzenssache“, erklärt Ian Hamilton, „aber ich sitze in einem warmen Haus mit einer fantastischen Aussicht und habe einen vollen Bauch. Viele meiner Landsmänner, viele Kinder hier leben allerdings in Armut. Wer das weiß, betrachtet das Referendum auch als Kopfsache.“ Nach einer Abspaltung würden 5,4 Millionen Schotten schließlich selbst bestimmen, über Finanzen wie über Allianzen. England hat zehnmal so viele Einwohner wie Schottland, bestimmt in der Union im Zweifel die Mehrheit – und Premierminister David Cameron strebt mit Brexit, einem für 2017 angekündigten Referendum, den EU-Austritt an. „Ich würde mich zuallererst dafür einsetzen, dass Schottland EU-Mitglied bleibt“, sagt Hamilton. „Ich fürchte mich davor, was mit uns passieren könnte, wenn wir jetzt für Nein stimmen und Großbritannien dann der EU den Rücken kehrt.“ Er wünsche sich aber, dass die Entscheidung am 18. September „keine gegen England, sondern eine für Schottland“ wird. Uralte Feindschaften sollen keine Rolle mehr spielen. „Wir haben viel gemeinsam.“

„Ich liebe dieses Land“

Unterschiede hingegen lassen sich vor allem in der Einstellung finden, in der zwischenmenschlichen wie der politischen. England wählt fast traditionell konservativ, Schottland sozialliberal. England denkt nach wie vor stark in sozialen Klassen, Schottland strebt von jeher Gleichheit an. Und war laut Ian Hamilton „immer ein internationales Land“ mit Zuwanderern und Beziehungen zum Kontinent, was einem starken Nationalgefühl keinesfalls widerspricht: „Keiner kann Internationalist sein, ohne zuerst Nationalist zu sein.“ Mit dem Wort ist er zwar vorsichtig, denn als Weltkriegsveteran weiß er, dass dahinter „eine gefährliche Gesinnung“ stehen kann. „Aber ich glaube, dass es Menschen besonders leichtfällt, in einem Land voller Leute, die ihnen gleichen, ihre Identität zu finden. Das muss indes begleitet sein von der Fähigkeit – und ich bin stolz, dass wir Schotten sie haben -, jedem anderen unsere Tür zu öffnen.“

„Ich liebe dieses Land“, resümiert Ian Hamilton zum Schluss des Gesprächs. Und: „Wenn jetzt die Antwort Nein ist, ist das nicht das Ende von Schottland. Nach einem Nein wären sicherlich viele Menschen enttäuscht, aber sie würden es wieder versuchen.“ Und wenn es doch ein Ja wird, „bin ich wohl zu alt, um ausgiebig zu feiern, aber im Herzen feiere ich mit.“ Als der Mann, der den ersten Stein legte.