Missbrauchsexperte: Schulen tun zu wenig

Wie kann man Kinder vor Missbrauch schützen? „Man muss sie über Gefahren aufklären – so früh wie möglich“, sagt der Jugendpfleger von Remagen, Johannes Heibel (55).

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Wie kann man Kinder vor Missbrauch schützen? „Man muss sie über Gefahren aufklären – so früh wie möglich“, sagt der Jugendpfleger von Remagen, Johannes Heibel (55).

Der renommierte Sozialpädagoge kämpft seit 1993 mit seiner „Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch“ gegen Kindesmissbrauch. Er, seine Mitstreiter und „Schutzbär Bulli“ geben bundesweit Präventionskurse für Schulkinder – bisher etwa 20-mal. Doch im Interview zieht er ein negatives Fazit: „Schulen tun viel zu wenig für Prävention.“

Immer wieder beherrschen Fälle von Kindesmissbrauch die Schlagzeilen. Schulen rennen Ihrer Präventionsinitiative sicher die Tür ein …

Nein, überhaupt nicht. Viele Schulen haben einfach kein Interesse an Prävention vor Missbrauch. Wir müssen ihnen unsere „Schutzbär Bulli“-Kurse regelrecht aufdrängen. Vor zwei Jahren bot ich 200 Grundschulen den Kurs an. Nur 4 Schulen reagierten.

Woher kommt dieses Desinteresse?

Der mehrstündige Kurs kostet rund 300 Euro. Dieses Geld wollen oder können die Schulen oft nicht aufbringen. Auch Lehrer sträuben sich, weil Missbrauchsprävention kein Pflichtprogramm im Lehrplan ist.

Wie reagieren die Eltern auf Ihr Kursangebot?

Die meisten positiv. Nicht wenige lehnen die Kurse aber auch ab. Erstens glauben sie, dass es zwar eine abstrakte Gefahr von Kindesmissbrauch gibt, aber ihre Kinder nicht betroffen sind. Zweitens wollen sie ihre Kinder im Grundschulalter nicht mit dem Thema Kindesmissbrauch konfrontieren. Sie möchten ihre „heile Welt“ nicht zerstören.

Können Sie die Eltern verstehen?

Natürlich verstehe ich, dass sie das Thema Missbrauch von ihren Kindern fernhalten möchten. Aber: Ich kann nicht akzeptieren, dass sie ihre Kinder nicht über die Gefahren des Missbrauchs aufklären wollen. Sie sprechen mit ihnen doch auch über andere unschöne Dinge, Krankheiten, Verkehrsunfälle oder Kriege. Warum nicht über sexuellen Missbrauch? Kinder wissen nicht, was Erwachsene tun dürfen und was nicht. Und genau diese Unwissenheit ist es, die Kinderschänder brutal ausnutzen.

Wann sollte man mit Kindern erstmals über Missbrauch sprechen?

Mit etwa drei Jahren. Man muss Kindern in diesem Alter klarmachen, dass sie Grenzen ziehen können, die andere zu akzeptieren haben. Einem Jungen etwa würde ich sagen: „Wenn du Pipi machen musst und dann kommt da einer und will deinen Pipimann anpacken, dann ist es völlig okay, wenn du sagst: ,Nein, das will ich nicht.‘ Und du kannst Dich beschweren – bei der Erzieherin oder bei der Mama.“

Wie sprechen Sie mit Grundschulkindern über Missbrauch?

Wir lesen die Geschichte von „Schutzbär Bulli“ und dem kleinen Tim: Der Junge fasst Vertrauen zu dem Bären und erzählt, dass sein Stiefvater Manfred „komische Spiele“ mit ihm spielt. „Ich muss Manfred an seinem Penis anfassen. Das Gleiche macht er auch bei mir. Das ist richtig ekelig.“ Der Bär erklärt Tim, dass das sexueller Missbrauch ist. So taste ich mich mit den Kindern an das Thema ran.

Hätte das Drama von Fluterschen durch den Präventionskurs verhindert werden können?

Allein durch den Kurs wohl nicht. Aber ich bin mir sehr sicher, wenn wir vom Jugendamt rechtzeitig hinzugezogen worden wären, hätten wir vieles verhindern können.

Was hätten Sie anders gemacht als das Jugendamt?

Wir hätten mit den Kindern in jedem Fall einzeln gesprochen und signalisiert, dass es möglich ist, sofort aus der Familie herauszukommen. Dann hätten sie eher Mut gefunden zu reden. Spätestens 2002, als die beiden Söhne Detlef S. des sexuellen Missbrauchs bezichtigt haben, hätte das Jugendamt alle Kinder aus der Familie holen müssen. Alle, nicht nur die mutmaßlichen Opfer!

Wäre das rechtlich überhaupt möglich gewesen?

Wenn es die Gesetze dafür nicht gibt, dann müssen sie eben geschaffen werden. Aber einfach nichts zu tun, das geht nicht!

Was müsste man noch tun für den Kampf gegen Missbrauch

Opfer brauchen oft sehr lange, bis sie mit anderen über ihr Leid sprechen können. Darum sollten die juristischen Verjährungsfristen bei Missbrauch komplett abgeschafft werden. Wer sich an einem Kind vergreift, muss dafür in jedem Fall bestraft werden können.

Das Gespräch führte Hartmut Wagner