Immer noch gespalten: Von Gastarbeitern und fehlender Integration – ein Kommentar von Sarah Kern

Auf eine erstaunliche Summe von 63 Nachkriegsregierungen und 27 Ministerpräsidenten kann Italien in den vergangenen 70 Jahren zurückblicken: Am 2. Juni 1946 wurde Italien nach einem Referendum Republik. Am 12. Juni 1946 titelte die Rhein-Zeitung: „Unruhiges Italien – Diskussion um seine zukünftige Staatsform“.

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Von Sarah Kern

Denn die Abstimmung war eine Katastrophe, es kam zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des Königs, der zuvor regierte, und den Menschen, die sich eine demokratische Staatsform nach dem faschistischen System wünschten. Die Linie verlief unterhalb Roms. Und da verläuft sie auch heute noch. Die Süditaliener wünschten sich den König zurück. Die Menschen im Norden wollten den König Umberto aus dem Land jagen.

Parallel dazu wurde eine neue Partei gegründet, was in Italien nichts Ungewöhnliches ist, aber diese wollte sich für das Fortbestehen der Monarchie einsetzen und Italien in zwei Teile geteilt sehen: in Süd- und Norditalien. Die separatistischen Strömungen in Italien gibt es bis heute, das politische System des wunderschönen Landes, meines Heimatlandes, scheint auch 70 Jahre nach dem, was die Rhein-Zeitung in weiser Vorausahnung titelte, unruhig zu sein. Kein Wunder: Gäbe es den Süden Italiens nicht, strukturschwach, rohstoffarm, geprägt von hoher Arbeitslosigkeit und in steter Abhängigkeit vom Norden, wäre Italien das reichste Land Europas: Die Achse Turin– Genua–Mailand ist die Region in der EU, die das größte Bruttosozialprodukt erwirtschaftet, wegen der großen Dichte an mittelständischen Unternehmen.

Aber der Mezzogiorno, der Süden Italiens, ist ein Teil Italiens, auch heute noch. Und die wirtschaftlich desolate Situation, gerade auch auf Sizilien, hat Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre zur größten Einwanderungswelle an Wirtschaftsflüchtlingen geführt, die Deutschland bis dahin kannte: den italienischen Gastarbeitern. Mein Opa war einer der ersten. Schon relativ früh, in der Mitte der 1950er-Jahre, war für ihn klar, dass es nur einen Weg aus diesem unruhigen Italien geben kann: raus aus diesem Land, in dem er für sich keine Zukunft sah. Mein Opa ist als das älteste von fünf Kindern in Aragona geboren, einem kleinen Ort nahe Agrigento.

Meine Großeltern haben jung geheiratet, Schulbildung gab es nicht, gearbeitet wurde auf den Feldern unter der heißen Sonne Siziliens. 1959 hatten meine Großeltern drei Kinder, meine Mama war damals vier Jahre alt, als es hieß: Koffer packen und aufbrechen in ein anderes, ein fremdes Land. Mein Großvater hatte seine Familie nachkommen lassen, er selbst lebte und arbeitete schon einige Jahre in Belgien, Frankreich und Deutschland. Und Deutschland schien für ihn der beste Ort zu sein, um auszubrechen aus dem unruhigen Italien.

Mein Großvater hat seine Familie ins Saarland nachziehen lassen. Auf Sizilien hat er alles verkauft, was er besessen hat. Ein Haus mit kleinen Balkonen an der großen Piazza, benannt nach dem Nationalhelden Vittorio Emanuele II., ein Stück Land, das seine Familie bewirtschaftet hatte. Es waren unruhige Zeiten in Italien, eine unruhige politische Situation. Meine Großeltern sind nie zurückgekehrt. Man hat Gastarbeiter nach Deutschland gerufen und es kamen Menschen, wie Max Frisch treffend formulierte. Menschen, die sich für ihr Heimatland eine andere Zukunft erhofften. Menschen, die geflohen sind in der Hoffnung, dass sie woanders eine bessere Zukunft haben. Meine Großeltern fanden sie nicht in Deutschland.

Es gab keine Integrationspolitik in den 60er-Jahren in der Bundesrepublik. Damit sind meine Großeltern aber nicht allein. Während man in Deutschland Gastarbeiter arbeiten ließ und dabei vergaß, sie zu integrieren, hat Italien, zusammengeflochten aus unterschiedlichsten Regionen und Eigenheiten, versucht, eins zu werden und so etwas wie eine gemeinsame Identität zu entwickeln. 70 Jahre, 63 Nachkriegsregierungen, 27 Ministerpräsidenten und unzählige Versuche, den Süden stark zu machen für die Zukunft, später kann man heute sagen, dass Italien immer noch genauso gespalten und unruhig ist wie 1946. Auch wenn man das als Tourist zwischen Pizza, Pasta, Vino und überbordender kultureller Schönheit nicht merkt.