Catania

Flüchtlinge in Europa: Die Angst vor dem Winter

Aus der Flüchtlingskrise könnte schon bald eine Flüchtlingskatastrophe werden. Denn mit jedem Tag wird es in Europa kälter – und trotzdem sind weiter Zehntausende Menschen auf der Flucht. So wie diese schwangere Frau aus Eritrea, die gemeinsam mit ihrer Tochter von der Deutschen Marine im Mittelmeer gerettet wurde und Zuflucht im Notlazarett der Fregatte „Schleswig-Holstein“ fand. Foto: dpa
Aus der Flüchtlingskrise könnte schon bald eine Flüchtlingskatastrophe werden. Denn mit jedem Tag wird es in Europa kälter – und trotzdem sind weiter Zehntausende Menschen auf der Flucht. So wie diese schwangere Frau aus Eritrea, die gemeinsam mit ihrer Tochter von der Deutschen Marine im Mittelmeer gerettet wurde und Zuflucht im Notlazarett der Fregatte „Schleswig-Holstein“ fand. Foto: dpa

Die Tage werden kälter, das Meer wird stürmischer – und Zehntausende Menschen fliehen weiter Richtung Europa. Was erwartet die Flüchtlinge im Winter? Hilfsorganisationen befürchten noch mehr Todesopfer.

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Von Nico Pointner, Gioia Forster, Jan Kuhlmann und Jessica Aguirre

Im Schatten seiner Kapitänsmütze blickt der Kommandant auf das Schiff. Noch liegt die „Schleswig-Holstein“ ruhig im Hafen von Catania auf Sizilien, sie wird beladen, betankt und in Schuss gebracht. Bald geht es wieder auf hohe See, Patrouille steht an vor der libyschen Küste. Ein leichter Wind weht kühl. Er zeugt bereits vom nahenden Winter.

Kapitän Marc Metzger weiß noch nicht genau, was ihm und seiner Besatzung in den kommenden Monaten bevorstehen wird. Der 42-Jährige kommandiert eine Fregatte der deutschen Bundeswehr, die als Teil einer EU-Mission Flüchtlinge im Mittelmeer rettet. Sicher ist: Im Winter birgt das Mittelmeer für Flüchtlinge aus Nordafrika noch größere Gefahren als sonst. Der Wellengang kann dann bis zu vier Meter hoch sein, sagt Metzger. „Schlauchboote und Holzboote kommen kaum gegen die Wellen an.“

Zehntausende auf der Flucht

Mit jedem Tag wird es nun kälter in Europa, und weiterhin sind Zehntausende Menschen auf der Flucht. Sie irren durch den Balkan, sitzen tagelang fest an osteuropäischen Grenzen, versuchen ihr Glück auf dem Seeweg, von der Türkei auf die griechischen Insel, oder von Nordafrika nach Südeuropa. Was erwartet die Flüchtlinge – im Libanon, auf der Balkanroute, am Mittelmeer, in Deutschland?

Für Bakri Allusch war bereits der Sommer schlimm. Der Mann Mitte 30, die Haare leicht angegraut, stöhnt, als er von den vergangenen Wochen erzählt: die Hitze, kein Wasser, kein Strom und dann diese Enge in der Baracke aus Holz und Plastik, die sie sich mit Verwandten teilen: elf Personen in einem kleinen Raum.

„Wir müssen um alles betteln“

Bakri Allusch floh vor mehr als einem Jahr mit Frau und drei kleinen Kindern vor den Bomben aus dem nordsyrischen Aleppo in den Libanon. Hier leben sie jetzt in einem Flüchtlingslager in der Bekaa-Ebene nahe der syrischen Grenze. „Wir müssen um alles betteln: Arbeit, medizinische Versorgung, Essen, um die einfachsten Dinge im Leben. Es wäre besser gewesen, wenn wir in Syrien gestorben wären, als hier als Bettler zu leben“, sagt er unter Tränen.

Und jetzt kommt auch noch der Winter. Der kann kalt sein in der Bekaa-Ebene, sehr kalt. Im vergangenen Frühjahr fiel hier so viel Schnee, dass die Straßen geschlossen werden mussten und keine Hilfe mehr zu den Flüchtlingen kam. Menschen erfroren. Zwar hat das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Ölheizungen an Flüchtlinge verteilt. Aber viele Familien haben sie im Sommer verkauft, um an ein wenig Geld zu kommen. Auch Bakri Allusch weiß nicht, wie er die Baracke im Winter wärmen soll. „Wir erwarten das Schlimmste“, sagt er. „Wir haben keine Heizung und nur kaltes Wasser.“

Was steht Kapitän Marc Metzger und seiner Besatzung im Winter bevor? Der 42-Jährige kommandiert die Fregatte „Schleswig-Holstein“, die Flüchtlinge im Mittelmeer rettet. Foto: dpa
Was steht Kapitän Marc Metzger und seiner Besatzung im Winter bevor? Der 42-Jährige kommandiert die Fregatte „Schleswig-Holstein“, die Flüchtlinge im Mittelmeer rettet.
Foto: dpa

Der Bedarf für zusätzliche Winterhilfe im Libanon wird immer dringlicher, heißt es beim UNHCR. 70 Prozent der rund 1,1 Millionen syrischen Flüchtlinge dort leben unter der Armutsgrenze. Sie haben am Tag weniger als 3,40 Euro pro Person. Auch in diesem Jahr sollen Öfen, Decken und warme Kleidung an die Menschen verteilt werden. Ab November erhalten die bedürftigsten Flüchtlinge vier Monate zusätzliches Geld. Allerdings ist das UNHCR massiv unterfinanziert. Etwa 1,9 Milliarden US-Dollar (1,7 Milliarden Euro) brauchen die libanesische Regierung und die Hilfswerke in diesem Jahr, um die Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Davon haben sie erst rund 40 Prozent erhalten.

Auch in Osteuropa wird die Lage mit jedem Tag schwieriger. Der Balkan ist seit Wochen Verschiebebahnhof und Wartesaal für Tausende Flüchtlinge. Familien liegen nachts an den Grenzen ohne Decken unter freiem Himmel auf der Straße. Karl Kopp spricht bereits jetzt von einer „permanenten humanitären Katastrophe“. „Leute ohne Essen und medizinische Versorgung irren durch Europa bei jetzt kühlen Temperaturen, Menschen mit Kindern, Menschen auf Krücken“, berichtet der Europareferent der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.

Erschöpfung und Erfrieren

Der Winter auf dem Balkan ist kalt und feucht, Kopp warnt vor Erschöpfung und Erfrieren. „Die Menschen sind schon eh geschwächt“, sagt er. „Wenn sich die Situation fortsetzt im Winter, muss man mit mehr Toten rechnen.“ Bereits jetzt gibt es starke Regenfälle. Der Regen beschäftigt auch Nadine Cornier. Die UNHCR-Mitarbeiterin hilft am Bahnhof von Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze aus. Hunderte Menschen müssen dort derzeit bis zu ihrer Weiterreise ausharren. Derzeit lässt es sich zwar abends noch mit einem Hemd aushalten. Doch vor zwei Wochen hat es stark geregnet, berichtet Cornier. Das UNHCR hat deshalb Zelte aufgestellt.

Kummer bereitet Cornier vor allem die Lage im Hunderte Kilometer entfernten Ägäischen Meer, dort, wo die Flüchtlinge mit kleinen Schlepperbooten von der Türkei nach Griechenland übersetzen. „Weil das Meer nun unruhiger wird, werden wir eine ganze Menge Menschen verlieren“, sagt Cornier. Sie organisiert bereits psychologisches Training für Polizisten, die Küstenwache und den UNHCR. Damit sie die Flüchtlinge betreuen können. Aber auch, um selbst traumatische Erfahrungen verarbeiten zu können.

Die Zahl der Flüchtlinge auf dem Mittelmeerweg nach Europa wird nach Einschätzung von Experten im Winter kaum geringer werden. Seit Jahresbeginn sind mehr als 470 000 Flüchtlinge in unsicheren Booten nach Europa gelangt. Der Druck der Flüchtlinge auf der Landseite baut sich weiter auf, die Leidensschicksale werden noch größer, berichtet auch Kapitän Marc Metzger in Catania. Wenige Tage zuvor war eine 17-jährige Frau unter den Geretteten, die im neunten Monat schwanger war. Ihre kleine Tochter saß neben ihr im Notlazarett und malte Bilder. „Ich kann mir vorstellen, dass es im Winter einige auf anderen Wegen versuchen, zum Beispiel mit Fischerbooten“, sagt der Fregattenkapitän. Darauf muss sich die Besatzung der „Schleswig-Holstein“ einstellen. „Eine Rettung bei schwerem Seegang ist sehr schwierig, das ist eine Gefahr für die Retter und die Geretteten“, sagt Metzger.

Der Winter naht, die Zeit läuft

Bei Rettungseinsätzen werden normalerweise Schwimminseln an der Seite der Fregatte eingesetzt. Speedboote bringen die Flüchtlinge von ihrem kenternden Boot zu der Schwimminsel, von der einer nach dem anderen an Bord gehen kann. Ab eineinhalb Meter Wellengang können diese Schwimminseln nicht mehr eingesetzt werden. Die Besatzung muss sich für den Winter etwas anderes überlegen. Die Devise des Fregattenkapitäns bleibt weiterhin: „Wenn es Menschen in Seenot gibt, ist die Frage nicht ob, sondern wie sie gerettet werden.“

Der Winter naht, die Zeit läuft. Das gilt auch für Deutschland. Tausende Flüchtlinge brauchen auch hier einen warmen, trockenen Platz zum Schlafen. Viele leben derzeit in Zelten. „Wir fordern Bund, Länder und Gemeinden auf, angesichts sinkender Temperaturen für feste Wohnunterkünfte zu sorgen“, sagt der Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes, Dieter Schütz. Schleswig-Holstein überlegt, im Winter Schiffe zu chartern. Rheinland-Pfalz will beheizbare Zelte nicht mehr ausschließen. Kommunen suchen händeringend nach Wohnungen, mittlerweile machen Forderungen nach Beschlagnahmungen leerer Gebäude die Runde. „Es gibt das Ziel der Länder, dass alle Unterkünfte winterfest gemacht werden“, heißt es aus dem Bundesinnenministerium. Selbst Jugendherbergen wollen Flüchtlingen eine Unterkunft bieten.

Doch selbst wenn sie ein festes Dach über dem Kopf haben, hält die kalte Jahreszeit Herausforderungen bereit. Die Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Meßstetten auf der Schwäbischen Alb ist bereits seit Monaten hoffnungslos überbelegt. Mehr als 3000 Flüchtlinge leben hier eng auf eng in einer ehemaligen Kaserne. Feldbetten stehen in der ehemaligen Waffenkammer und in den alten Hörsälen. Die Gemeinschaftsräume wurden zweckentfremdet, auch der Kinosaal dient nun als Schlafraum.

Den ganzen Sommer lang hielten sich die Flüchtlinge im Freien auf, sie grillten im Wildgehege nebenan, entspannten auf den Wiesen ums Dorf herum. Was machen sie im Winter?